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Christine Wahlig (Rechtsanwältin – Redaktionelle Leitung Blog) & Alice Tanke (Marketing Managerin)

Inside Workplace Law

Die EU-Mitgliedstaaten müssen zukünftig Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung verpflichten – Ist damit Vertrauensarbeitszeit am Ende?

Personen in Gespraechssituation mit Dokumenten und roemischen Saeulen

Der Europäische Gerichtshof entschied heute in einem mit Spannung erwarteten Urteil in einem spanischen Fall, dass die Arbeitszeitrichtlinie und die Grundrechtecharta der Europäischen Union jeden Arbeitgeber verpflichten, die Arbeitszeiten ihrer Arbeitnehmer systematisch zu erfassen. Die in Spanien und auch in Deutschland übliche Erfassung nur von Überstunden reicht danach nicht aus. Bedeutet dies das Ende der in Deutschland vielfach praktizierten Vertrauensarbeitszeit und sonstigen Arbeitszeitmodellen, bei denen keine Arbeitszeit erfasst und die gesetzlichen Erfassungspflichten von Überstunden auf die Arbeitnehmer delegiert werden? Das wäre ein Paukenschlag und würde in der durch die Digitalisierung getriebenen Entwicklung einer zunehmenden Flexibilisierung und Entgrenzung der Arbeit einen deutlichen Kontrapunkt setzen.

Geklagt hatte die spanische Gewerkschaft Federación de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO) vor dem nationalen Gerichtshof in Spanien auf Feststellung, dass die Deutsche Bank verpflichtet sei, ein System zur Erfassung der von deren Mitarbeitern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten, um die Einhaltung der vorgesehenen Arbeitszeiten sicherstellen zu können. Die Gewerkschaft vertrat dabei die Ansicht, dass sich eine solche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung aus den innerstaatlichen Rechtsvorschriften sowie aus der Charta der Grundrechte der EU und der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG ergäbe.

Zuvor hatte die Deutsche Bank vor dem Obersten Gerichtshof in Spanien damit argumentiert, dass nach spanischem Recht keine allgemeingültige Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung vorgesehen sei. Der Oberste Spanische Gerichtshof hatte dementsprechend eine allgemeine Verpflichtung zur Aufzeichnung der Regelarbeitszeit abgelehnt und das spanische Gesetz dahingehend ausgelegt, dass nur die Führung einer Aufstellung der von den Arbeitnehmern geleisteten Überstunden sowie die Übermittlung der Zahl dieser Überstunden zum jeweiligen Monatsende an die Arbeitnehmer und ihre Vertreter vorgesehen sei. Dies entspricht in etwa der Rechtslage in Deutschland (siehe § 16 ArbZG).

Der nationale Gerichtshof in Spanien hegte Zweifel an der unionsrechtlichen Vereinbarkeit der Auslegung des spanischen Gesetzes vom Obersten Gerichtshof und legte die Sache dem EuGH vor. Der nationale Gerichtshof wies darauf hin, dass das spanische Recht nicht die tatsächliche Einhaltung der in der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und der Richtlinie 89/391/EWG über die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer bei der Arbeit vorgesehenen Verpflichtungen gewährleisten könne. Nach den dem EuGH vorgelegten Informationen werden 53,7 % der in Spanien geleisteten Überstunden nicht erfasst. Die Auslegung durch den Obersten Gerichtshof führe praktisch dazu, dass den Arbeitnehmern in der Praxis ein Beweismittel für die Darlegung der Überschreitung ihrer Höchstarbeitszeit entzogen werde.    

Der EuGH-Generalanwalt Giovanni Pitruzzella vertrat in seinem Schlussantrag vom 31. Januar 2019 die Auffassung, dass Unternehmen verpflichtet seien, ein objektives und verlässliches System zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit einzuführen.

Der EuGH bestätigt diese Auffassung und entschied, dass ohne ein solches Arbeitszeiterfassungssystem weder eine Ermittlung der geleisteten Arbeitsstunden und ihrer zeitlichen Verteilung noch die Ermittlung von Überstunden objektiv und verlässlich möglich sei. Dies gefährde die Durchsetzung des in der Charta gewährten Grundrechts eines jeden Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten. Für die Feststellung, ob die wöchentliche Höchstarbeitszeit einschließlich der Überstunden sowie die täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten eingehalten worden sind, sei ein Zeiterfassungssystem unerlässlich.

Daher müssen die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber in Zukunft verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Über die konkrete Umsetzung und Art des Systems dürfen die EU-Länder eigenständig bestimmen. Je nachdem, um welche Tätigkeit es geht oder wie groß ein Unternehmen ist, können die Vorgaben unterschiedlich ausfallen.

Dieses Urteil dürfte erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsalltag zahlreicher Unternehmen in Deutschland haben. Auch in Deutschland machen mehr als die Hälfte der Beschäftigten Überstunden. 62 Prozent erhalten hierfür keinen Ausgleich. Einer Studie zufolge arbeiten Fachkräfte in ihrer gesamten Berufslaufbahn 6562 Stunden länger als vertraglich vereinbart. Dabei ist fraglich, wie viele von den geleisteten Überstunden in Deutschland tatsächlich erfasst werden. Denn längst nicht in allen Branchen werden Arbeitszeiten systematisch erfasst.

Bislang ist arbeitsschutzrechtlich in Deutschland nur geregelt, dass in der Regel 48 Stunden pro Woche gearbeitet werden darf und an jedem Tag 11 Stunden Ruhezeit am Stück eingehalten werden muss. Zudem sieht das Arbeitszeitgesetz vor, dass bei einer Arbeitszeit von mehr als 6 bis 9 Stunden 30 Minuten Ruhepause verbracht werden müssen, sowie bei einer Arbeitszeit von mehr als 9 Stunden die Arbeit für 45 Minuten unterbrochen werden muss. Überstunden müssen gemäß § 16 des Arbeitszeitgesetzes nur aufgezeichnet werden, wenn sie über die werktägliche Arbeitszeit hinausgehen.

Folgende Konsequenzen erscheinen mir unausweichlich:

  1. Jedes Unternehmen muss ein Arbeitszeiterfassungssystem für alle Arbeitnehmer einführen, die unter das Arbeitszeitgesetz fallen. Dies sind alle Arbeitnehmer mit Ausnahme leitender Angestellter ungeachtet ihres Verdienstes.
  2. Eine vollständige Delegation der Aufzeichnungspflichten der Arbeitszeit auf Arbeitnehmer dürfte nicht mehr möglich sein. Es handelt sich dabei nicht um ein objektives und verlässliches System der Arbeitszeiterfassung.
  3. Die in vielen Unternehmen praktizierte Vertrauensarbeitszeit funktioniert nicht mehr in der bisherigen Form: Es ist zwar weiterhin möglich, die Bestimmung des Umfangs und der Lage der werktäglichen Arbeitszeit der souveränen Entscheidung des einzelnen Arbeitnehmers zu überlassen; es wird aber parallel eine vollständige und objektive Erfassung der Arbeitszeit durch den Arbeitgeber geben müssen. Wird im Rahmen der Vertrauensarbeitszeit häufig und systematisch gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen, muss der Arbeitgeber einschreiten.  Anderenfalls drohen erhebliche Bußgelder. Durch die erforderliche Arbeitszeiterfassung wird der zuständigen Arbeitsschutzbehörde der Verstoß des Unternehmens „auf dem Silbertablett serviert“.
  4. Die Erfassung der Arbeitszeit soll nach Auffassung des EuGH die Durchsetzung eines Anspruchs der Arbeitnehmer auf Bezahlung von Überstunden erleichtern. Der Arbeitnehmer wird aber auch künftig darlegen müssen, dass die Ableistung der Überstunden angeordnet wurde. Auch künftig werden Arbeitnehmer, die erheblich über der Beitragsbemessungsgrenze zur Rentenversicherung verdienen, keine Bezahlung von Überstunden verlangen können.
Thomas Wahlig

Thomas Wahlig ist spezialisiert auf Unternehmenskäufe und –restrukturierungen, Betriebsübergangsrecht, Tarifrecht, komplexe Gerichtsverfahren sowie auf die Einführung von Arbeitszeitmodellen und Vergütungssystemen.

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