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Christine Wahlig (Rechtsanwältin – Redaktionelle Leitung Blog) & Alice Tanke (Marketing Managerin)

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Die arbeitsschutzrechtlichen Besonderheiten im Umgang mit schwerbehinderten Arbeitnehmer:innen

Meike Arbeitsschutz (2)

Neues aus der Practice Group HR Compliance und Arbeitsschutz

Für bestimmte Personengruppen gelten unter arbeitsschutzrechtlichen Gesichtspunkten gewisse Besonderheiten. Dazu zählen unter anderem auch schwerbehinderte Beschäftigte. Arbeitgeber:innen sollten sich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen des Arbeitsschutzes für Menschen mit Behinderung vertraut machen, um ein Arbeitsschutzniveau im Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben gewährleisten zu können. Die besonderen, für schwerbehinderte Beschäftigte einschlägigen arbeitsschutzrechtlichen Regelungen finden sich überwiegend im SGB IX. Sie erweitern den allgemeinen Arbeitsschutz sowohl um technische als auch soziale Aspekte.

Schwerbehinderung nach SGB IX

Menschen mit Schwerbehinderung sowie die ihnen gleichgestellten Menschen genießen im Arbeitsverhältnis einen besonderen Schutz, der im SGB IX geregelt ist. 

Den Anwendungsbereich des SGB IX legt dessen § 2 fest. Als schwerbehindert gelten danach Menschen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 (§ 2 Abs. 2 SGB IX). Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen Menschen ab einem Grad der Behinderung von mindestens 30 (§ 2 Abs. 3 SGB IX). Im Folgenden sind die gleichgestellten Beschäftigten vom Begriff der schwerbehinderten Arbeitnehmer:innen umfasst, sofern eine Differenzierung nicht ausdrücklich erfolgt.

Allgemeines Rücksichtnahmegebot am Arbeitsplatz

Bei der näheren Bestimmung von Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung haben Arbeitgeber:innen im Rahmen ihres Weisungsrechts auf Behinderungen Rücksicht zu nehmen, § 106 S. 3 GewO. Dies gilt für alle Arbeitnehmer:innen mit Behinderung. Der Grad der Schwerbehinderung muss insofern nicht erreicht sein.

Können Arbeitnehmer:innen aufgrund einer Behinderung ihre ursprüngliche Tätigkeit nicht mehr ausüben, so sind Arbeitgeber:innen gehalten, unter Berücksichtigung der Behinderung eine andere vertragsgemäße Tätigkeit zuzuweisen. Dies setzt allerdings voraus, dass der Arbeitnehmer/die Arbeitnehmerin die Umsetzung auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz verlangt und dem Arbeitgeber mitgeteilt hat, wie er/sie sich die weitere, die aufgetretenen Leistungshindernisse ausräumende Beschäftigung, vorstellt (BAG, Urteil vom 19.05.2010 – 5 AZR 162/09). Dem müssen Arbeitgeber:innen regelmäßig im Rahmen des ihnen zustehenden Direktionsrechts entsprechen, sofern die Neuzuweisung zumutbar und rechtlich möglich ist. Kommt der Arbeitgeber dem Verlangen dennoch nicht nach, kann dies eine schuldhafte Verletzung der Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB darstellen und zu Schadensersatzansprüchen des betroffenen Beschäftigten führen.  

Behinderungsgerechte Beschäftigung nach SGB IX und ArbStättV

Deutlich weiter gehen die Pflichten von Arbeitgeber:innen, wenn Beschäftigte den Grad der Schwerbehinderung erreichen. Dann findet das SGB IX Anwendung, welches in § 164 Abs. 4 S. 1 SGB IX die behinderungsgerechte Beschäftigung schwerbehinderter Arbeitnehmer:innen regelt. Gem. § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX ist die Beschäftigung Schwerbehinderter unter anderem so zu gestalten, dass diese ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können.

Demnach sind Arbeitgeber:innen verpflichtet, Arbeitsstätte, Arbeitsplätze, Arbeitsumfeld, Arbeitsorganisation und Arbeitszeit behinderungsgerecht einzurichten sowie den Arbeitsplatz mit den erforderlichen technischen Arbeitshilfen auszustatten (§ 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 4 und Nr. 5 SGB IX).

Können schwerbehinderte Arbeitnehmer:innen die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung wegen ihrer Behinderung nicht mehr erbringen, haben sie in den Grenzen der Zumutbarkeit einen Anspruch auf eine Vertragsänderung, die eine behinderungsgerechte Beschäftigung ermöglicht (BAG, Urteil vom 10.05.2005 – 9 AZR 230/04).

Hinzu kommt, dass Arbeitgeber:innen gem. § 3a Abs. 2 Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) verpflichtet sind, Arbeitsstätten barrierefrei einzurichten. Zur praktischen Umsetzung können diesbezüglich die Technischen Regeln für Arbeitsstätten herangezogen werden (ASR V3a.2).

Behinderungsgerechte Arbeitszeit

Schwerbehinderte Arbeitnehmer:innen haben auch einen Anspruch auf behinderungsgerechte Gestaltung der Arbeitszeit. Demnach sind schwerbehinderte Arbeitnehmer:innen ggf. nicht zur Nachtzeit zu beschäftigen, sofern dies unter Berücksichtigung der Behinderung notwendig ist (BAG, Urteil vom 03.12.2002 – 9 AZR 462/01). Ferner besteht gem. § 164 Abs. 5 S. 3 SGB IX ein Anspruch auf Teilzeitarbeit, wenn eine kürzere Arbeitszeit wegen Art oder Schwere der Behinderung notwendig ist.

Auch im Hinblick auf Mehrarbeit genießen schwerbehinderte Beschäftigte besonderen Schutz. Gem. § 207 SGB IX können sie sich von jeglicher Mehrarbeit freistellen lassen. Das betrifft jegliche über acht Stunden werktäglich hinausgehende Arbeitszeit.

Grenze der Zumutbarkeit

Gewisse Rechte schwerbehinderter Arbeitnehmer:innen stehen unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit. Gem. § 164 Abs. 4 S. 3 SGB IX besteht ein Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung nicht, soweit dies Arbeitgeber:innen nicht zumutbar oder mit unverhältnismäßigem Aufwand verbunden wäre. Gleiches gilt für den Anspruch auf eine Teilzeittätigkeit wegen der Behinderung. Diese Regelung schützt Arbeitgeber:innen vor Überforderung.

Eine konkrete Maßnahme zugunsten eines schwerbehinderten Beschäftigten kann beispielsweise unzumutbar sein, wenn 

  • die wirtschaftliche Lage des Unternehmens diese nicht zulassen,
  • andere Arbeitsplätze gefährdet würden oder
  • andere Teile der Belegschaft unzumutbar belastet würden.

Demnach müssen Arbeitgeber:innen z.B. nicht der Teilzeitarbeit zustimmen, wenn deshalb Änderungen in der Arbeitsorganisation vorgenommen werden müssten, die Eingriffe in andere Arbeitsverhältnisse erfordern. Allein die Befürchtung von Auseinandersetzungen zur Verteilung der Arbeitszeit begründet allerdings keine Unzumutbarkeit.

Auch unverhältnismäßig hohe Kosten können den Ansprüchen schwerbehinderter Beschäftigter grundsätzlich entgegengehalten werden. Dabei können Arbeitgeber:innen eine Kosten-Nutzen-Rechnung anstellen, die eine Unzumutbarkeit z.B. begründet, wenn die erforderlichen Aufwendungen sehr hoch wären und das Arbeitsverhältnis mit dem betroffenen Beschäftigten wegen Befristung oder Erreichen der Altersgrenze ohnehin bald endet. Allerdings müssen diesbezüglich auch etwaige Förderungsmittel der Integrationsämter in die Betrachtung einbezogen werden.

Zusatzurlaub

Gem. § 208 SGB IX haben schwerbehinderte Beschäftigte jährlich Anspruch auf einen bezahlten fünftägigen Zusatzurlaub (auf Basis einer 5-Tage-Woche), wenn das Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate andauert. Dieser Anspruch auf Zusatzurlaub tritt jeweils zu dem Urlaubsanspruch hinzu, den der Beschäftigte ohne Berücksichtigung der Schwerbehinderung als sog. Grundurlaub beanspruchen kann. Grundurlaub meint hier nicht bloß den gesetzlichen Mindesturlaub, sondern umfasst auch den vertraglichen Mehrurlaub.

Schwerbehinderten Arbeitnehmer:innen gleichgestellte Beschäftigte sind allerdings vom Anspruch auf Zusatzurlaub ausgeschlossen (§ 151 Abs. 3 SGB IX).

Stufenweise Wiedereingliederung

Schwerbehinderte Beschäftigte können von Arbeitgeber:innen bei Bedarf auch die Mitwirkung an einer stufenweisen Wiedereingliederung zur Wiederaufnahme der Beschäftigung verlangen. Erforderlich ist insofern die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung des behandelnden Arztes, aus der sich Art und Weise der empfohlenen Beschäftigung, Beschäftigungsbeschränkungen, Umfang der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit sowie die Dauer der Maßnahme ergeben. Ferner bedarf es einer Prognose, wann die Tätigkeit voraussichtlich wieder aufgenommen werden kann.

Schwerbehindertenvertretung und Inklusionsbeauftragter

Die Schwerbehindertenvertretung ist die gewählte Interessenvertretung der schwerbehinderten und gleichgestellten Beschäftigten. Sie ist vom Betriebsrat rechtlich unabhängig. Die Schwerbehindertenvertretung fördert die Eingliederung schwerbehinderter Menschen in den Betrieb, vertritt ihre Interessen in dem Betrieb und steht ihnen beratend und helfend zur Seite (§ 178 Abs. 1 SGB IX). Ein echtes Mitbestimmungsrecht hat die Schwerbehindertenvertretung – anders als der Betriebsrat  – nicht, ihr kommen jedoch Unterrichtungs- und Informationsrechte zu. Zudem ist die Schwerbehindertenvertretung vor Ausspruch einer Kündigung gegenüber einem schwerbehinderten Beschäftigten zwingend anzuhören (siehe unten).

Das „Gegenstück“ zur Schwerbehindertenvertretung auf Arbeitnehmerseite bildet der Inklusionsbeauftragte auf Arbeitgeberseite, der gemäß § 181 SGB IX vom Arbeitgeber zu bestellen ist. Dieser vertritt den Arbeitgeber verantwortlich im Hinblick auf die Angelegenheiten der schwerbehinderten Beschäftigten. Ob die Bestellung auch in Kleinunternehmen mit weniger als 20 Arbeitsplätzen erforderlich ist und auch dann, wenn tatsächlich kein schwerbehinderter oder gleichgestellter Mensch beschäftigt wird, ist umstritten. Unterbleibt die Bestellung, stellt dies keine Ordnungswidrigkeit dar. Allerdings bleibt der Arbeitgeber (vertreten durch die gesetzlichen Vertreter:innen) dann vollumfänglich verantwortlich. Zudem kann die unterbliebene Bestellung eines Inklusionsbeauftragten unter Umständen ein Indiz für eine Benachteiligung wegen einer Behinderung im Sinne des § 22 AGG darstellen, wenn sie nicht lediglich „ins Blaue hinein“ behauptet wird (LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 01.07.2020 – 15 Sa 289/20).

Sonderkündigungsschutz

Gem. §§ 168 ff. SGB IX genießen schwerbehinderte Beschäftigte Sonderkündigungsschutz. Die Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer:innen bedarf gem. § 168 SGB IX der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Eine ohne diese Zustimmung erklärte Kündigung ist nichtig. Der Sonderkündigungsschutz gilt für Kündigungen jeglicher Art, ohne Rücksicht auf den Kündigungsgrund, grundsätzlich jedoch nicht für Aufhebungsverträge und (den Ablauf von) Befristungen.

Das Zustimmungserfordernis gilt nicht während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses (§ 173 SGB IX). Ist Arbeitgeber:innen die Schwerbehinderung nicht bekannt, müssen Beschäftigte zudem innerhalb einer angemessenen Frist von ca. drei Wochen nach Zugang der Kündigung hierüber informieren, um den Sonderkündigungsschutz nicht zu verwirken.

Besteht eine Schwerbehindertenvertretung, muss diese vor Ausspruch der Kündigung unterrichtet und angehört werden. Andernfalls ist die Kündigung unwirksam (§ 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX; BAG, Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 378/18). Besteht auch ein Betriebsrat, ist dieser zusätzlich anzuhören.

Feststellung und Erlöschen des Schwerbehindertenschutzes

Für die Schwerbehinderteneigenschaft genügt bereits das objektive Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 SGB IX. Die behördliche Feststellung hat lediglich deklaratorische Bedeutung, dient den Beschäftigten allerdings als Nachweis über die Schwerbehinderung. Auf Antrag stellt die zuständige Behörde das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Der Schwerbehindertenausweis dient als Nachweis zur Inanspruchnahme von Rechten, unter anderem am Arbeitsplatz.

Der Schwerbehindertenschutz erlischt, wenn die Voraussetzungen des § 2 SGB IX wegfallen (§ 199 SGB IX). Vermindert sich lediglich der Grad der Behinderung auf weniger als 50, erlischt der Schutz erst am Ende des dritten Kalendermonats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des die Verringerung feststellenden Bescheides. Entsprechendes gilt für die Gleichstellung.

Praktische Bedeutung hat, dass während der Auslauffrist, die sich durch Einlegung von Widerspruch und Klageerhebung verlängern kann, neben den Rechten aus SGB IX auch rentenrechtliche Begünstigungen fortbestehen.

Fazit

Das SGB IX sieht weitreichende Regelungen zum Schutz schwerbehinderter Beschäftigter vor, die eine hohe Praxisrelevanz für Arbeitgeber:innen besitzen, die schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Menschen beschäftigen. Welche Maßnahmen im Hinblick auf Arbeitsplatz- und Arbeitszeitgestaltung in der Praxis zu treffen sind, hängt jedoch ganz überwiegend von den Umständen des Einzelfalles ab und bedarf oftmals einer Abwägung der beiderseitigen Interessen. Sollten Arbeitgeber:innen die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit einem schwerbehinderten Beschäftigten anstreben, ist der gesetzliche Sonderkündigungsschutz zu beachten, der ein zusätzliches behördliches Verfahren vor Ausspruch der Kündigung sowie die zusätzliche Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung (sofern vorhanden) zwingend erforderlich macht.

Unsere Practice Group HR Compliance und Arbeitsschutz berät Sie sehr gerne zu diesem Thema.

Meike Christine Rehner

Meike Christine Rehner ist spezialisiert auf internationales und europäisches Arbeitsrecht, Arbeitsschutz- und Arbeitssicherheitsrecht, Unternehmensrestrukturierungen und Kündigungsrechtsstreitigkeiten.

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