Berlin Tiergarten um 10 Uhr morgens. In Saal 515 des
Arbeitsgerichts Berlin spielen sich seltsame Szenen ab. Der etwa 65-jährige
beklagte Gesellschafter-Geschäftsführer einer mittelständischen Eismanufaktur
mit angeschlossenen Eiscafés führt dem aufmerksam zusehenden Gericht vor, wie
lange er zum Anlegen einer bunten Damenbluse und eines farblich dazu passenden
Rocks benötigt. Der Anwalt stoppt die Zeit, die bei 49 Sekunden stehen bleibt.
Triumphierend blickt der Beklagte zur Klägerin und bemerkt: „In einer
Viertelstunde ziehe ich Ihnen ein ganzes Batallion an.“ Die Klägerin, eine
typische, nicht mehr ganz junge „Berliner Göre“ erwidert trocken: „Chef, Sie
haben die Schuhe vergessen“.
Solche oder ähnliche Szenen spielen sich derzeit in vielen
Arbeitsgerichten Deutschlands ab. Es geht um das neue Modethema der Vergütung
von Umkleidezeiten, das die Gewerkschaften und in ihrem Gefolge auch zahlreiche
Arbeitnehmer für sich entdeckt haben. Sind diese Bestandteil der zu vergütenden
Arbeitszeit? Für die Unternehmen kann diese Frage von wirtschaftlich hoher
Bedeutung sein: Müssen allen Arbeitnehmern die Umkleidezeiten bereits vergütet
werden, ist typischerweise auch die sich anschließende Wegzeit zum Arbeitsplatz
bezahlte Arbeitszeit. Dies kann in Summe mit An- und Ablegen der Kleidung
schnell 15 Minuten ausmachen. Bei 100 Arbeitnehmern in einem Betrieb entspricht
dies pro Tag bereits 25 Stunden zusätzlich zu vergütender Arbeitszeit. Das
Thema hat also eine nicht zu unterschätzende wirtschaftliche Dimension. Dies
gilt umso mehr, wenn man besonders betroffene Branchen in den Blick nimmt. In
der Lebensmittelindustrie arbeiten beispielsweise rund 500.000 Arbeitnehmer.
Ca. 70% davon, also rund 350.000 Arbeitnehmer, arbeiten in den Bereichen
Produktion, Technik und Logistik und müssen spezielle Arbeitskleidung tragen.
Geht man von einer durchschnittlichen Umkleidezeit von nur 10 Minuten pro Tag
und 211 Arbeitstagen im Jahr aus, kommt man auf ein Gesamtvolumen von ca. 12,5
Millionen Stunden pro Jahr. Legt man einen durchschnittlichen Stundensatz von
18 Euro an und berücksichtigt dann noch die Kosten der Sozialversicherung,
ergibt dies eine mögliche Kostenbelastung von ca. 270 Millionen Euro für die
gesamte Ernährungsindustrie in Deutschland pro Jahr.
Die Frage, ob Umkleidezeiten zu vergütende Arbeitszeit sind,
hat also eine hohe wirtschaftliche Bedeutung. Wann ist dies der Fall und wann
nicht?
In einigen Branchen gibt es dazu tarifliche Regelungen,
meist jedoch nicht.
Die entscheidende Frage ist dann, ob das Umkleiden „Arbeit“
ist, also zum Bestandteil dessen gehört, was der Arbeitnehmer leisten muss und
wofür er bezahlt wird.
Arbeit ist nach einer seltsamen Definition des
Bundesarbeitsgerichts jede Tätigkeit, die der Befriedigung eines fremden
Bedürfnisses (nämlich dem des Arbeitgebers) dient. Dies umfasst nicht nur die
eigentliche Tätigkeit, sondern auch sonstige Tätigkeiten, die mit der
eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar
zusammenhängen.
Das Umkleiden ist im Sinne dieser Definition grundsätzlich
nicht vergütungspflichtig, denn der Arbeitnehmer erspart sich durch das Tragen
von Dienstkleidung das Tragen seiner eigenen Kleidung. Es ist also auch eigen-
und nicht nur fremdnützig. Etwas anderes gilt aber dann, wenn der Arbeitgeber das
Tragen einer bestimmten Kleidung vorschreibt und verbietet, diese Kleidung auch
bereits auf dem Arbeitsweg zu tragen. Der Arbeitnehmer ist dann nämlich
gezwungen, sich für den Arbeitgeber vor Ort noch einmal umzuziehen.
Das An- und Auskleiden mit vorgeschriebener Dienstkleidung
ist aber auch dann grundsätzlich keine vergütungspflichtige Arbeitszeit, wenn
die Dienstkleidung vom Arbeitnehmer zu Hause angelegt und auch auf dem
Arbeitsweg getragen werden kann. Der Arbeitnehmer erspart sich auch dann nämlich
das An- und Ablegen der eigenen Kleidung.
Nur in Ausnahmefällen gehen die Arbeitsgerichte auch in
diesem Fall gleichwohl von einer Fremdnützigkeit und damit von einer
Vergütungspflicht für Umkleidezeiten aus: Die Fremdnützigkeit wird zum Beispiel
bei „uniformer“ und besonders auffälliger Kleidung bejaht oder wenn das Tragen
der Kleidung auf dem Arbeitsweg aus hygienischen Gründen unzumutbar ist.
Von besonders auffälliger Kleidung ist auszugehen, wenn der
Träger der Arbeitskleidung im öffentlichen Raum ohne weiteres als Arbeitnehmer
eines konkreten Arbeitgebers erkennbar ist. Eine markante Farbgestaltung der
Dienstkleidung oder die Verwendung eines auffälligen oder markanten Firmenlogos
kann dabei relevant sein. Bejaht wurde dies bspw. für die Dienstkleidung von
IKEA.
Das Hessische Landesarbeitsgericht bejahte die
Vergütungspflicht für Zeiten des Umkleidens eines Müllwerkers. Es ging davon
aus, dass das Tragen der Dienstkleidung auf dem Arbeitsweg aus hygienischen
Gründen unzumutbar für den Arbeitnehmer sei. In diesem Fall war die Kleidung
des Mitarbeiters eines Müllheizkraftwerks durch die Arbeit stark verschmutzt
und sonderte sehr unangenehme Gerüche ab. Obwohl das Tragen der Arbeitskleidung
auf dem Arbeitsweg vom Arbeitgeber erlaubt war, war es nach der Bewertung des
Gerichts dem Mitarbeiter und Dritten nicht zumutbar, diese Kleidung im
Privat-Pkw oder in öffentlichen Verkehrsmitteln auf dem Arbeitsweg zu tragen.
Gleiches galt für das Aufbewahren der getragenen Arbeitskleidung Zuhause.
Neben der grundsätzlichen Frage der Vergütungspflicht steht
häufig auch der Umfang der zu vergütenden Umkleidezeiten in Streit. Der
Nachweis der konkret angefallenen Zeiten ist in der Praxis nur schwer zu
führen. Ein Großteil der eingereichten Klagen scheitern bereits daran, dass die
klagenden Arbeitnehmer sich nicht der Mühe unterzogen haben, für jeden
einzelnen Arbeitstag die Dauer der Umkleidezeiten und die besonderen
Bedingungen bezüglich des Umkleidevorgangs, z.B. bei besonderer Schutz- oder
Winterkleidung zu erfassen. Die Vorschriften der Zivilprozessordnung erlauben
es jedoch den Gerichten, den Umfang angefallener Umkleidezeiten zu schätzen,
wenn der Arbeitnehmer unabdingbare Anknüpfungstatsachen für die Schätzung der
Umkleidezeiten hinreichend nachweist. Solche Anknüpfungstatsachen sind zum
Beispiel die konkreten Einzelabläufe des Umkleidens oder die örtlichen
Gegebenheiten.