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Christine Wahlig (Rechtsanwältin – Redaktionelle Leitung Blog) & Alice Tanke (Marketing Managerin)

Inside Workplace Law

Pflicht zur Arbeitszeiterfassung in Deutschland!

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Das Bundesarbeitsgericht hat in seinem viel beachteten Beschluss vom 13. September 2022 (Az. 1 ABR 22/21) festgestellt, dass Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet sind, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer einschließlich der Überstunden zu erfassen.  

Nach diesem Paukenschlag der Pressemitteilung (hierzu unser Blogbeitrag) wurde viel spekuliert, nun wurden die mit Spannung erwarteten Entscheidungsgründe veröffentlicht. Diese bringen an einigen Stellen Licht ins Dunkel, wichtige Fragen bleiben jedoch unserer Überzeugung nach offen. In jedem Fall besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf.

Eines ist dabei klar: Es gibt nach Auffassung des BAG eine nationale Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit. Für alle Unternehmen besteht jetzt Handlungsbedarf. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass Verstöße gegen § 3 ArbSchG, den das BAG als Rechtsgrundlage für die Erfassungspflicht heranzieht, für sich genommen nicht bußgeldbewehrt sind. Erst wenn Arbeitgeber vorsätzlich oder fahrlässig einer vollziehbaren Anordnung der zuständigen Aufsichtsbehörde zuwiderhandeln, verhalten sie sich ordnungswidrig. Bei beharrlicher Zuwiderhandlung oder Gefährdung von Leben oder Gesundheit eines Beschäftigten besteht in diesen Fällen sogar ein Strafbarkeitsrisiko. Ob und in welchem Umfang Aufsichtsbehörden gegenüber einzelnen Unternehmen nun auf Basis der Entscheidung des BAG Anordnungen zur Etablierung einer Arbeitszeiterfassung erlassen werden, bleibt abzuwarten. Ebenfalls fraglich ist, ob Beschäftigte aus § 618 BGB individualrechtlich einen Anspruch auf Einführung einer Arbeitszeiterfassung durchsetzen können.

Pflicht zur Arbeitszeiterfassung folgt aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG

Anlass der Entscheidung des BAG war eigentlich eine mitbestimmungsrechtliche Thematik: Ein Betriebsrat begehrte die Feststellung, dass er hinsichtlich der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung im Betrieb ein Initiativerecht hat. Ein solches Initiativrecht bezüglich des „Ob“ der Zeiterfassung lehnte das BAG ab. 

Zur Begründung verweist das Gericht jedoch auf § 87 Abs. 1 Eingangshalbsatz BetrVG, wonach ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nur existiert, „soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht“. Sodann führt das BAG aus, es existiere bereits eine gesetzliche Regelung, aus der sich für den Arbeitgeber eine Pflicht zur Einführung und Verwendung eines Arbeitszeiterfassungssystems ergibt. Dementsprechend sei für ein entsprechendes Initiativrecht des Betriebsrats auf der Ebene des „Ob“ kein Raum mehr.

Die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit folgt nach Auffassung des BAG jedoch nicht aus Art. 31 II der Grundrechte-Charta der Europäischen Union, da der Norm keine Direktwirkung zukommt. Auch eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG scheide aus, da sich eine solche als „contra legem“ erweisen würde. Der Wortlaut des § 16 Abs. 1 S. 1 ArbZG sieht ausdrücklich nur eine Aufzeichnung der über die werktägliche Arbeitszeit hinausgehenden Arbeitszeit vor.

Die Pflicht zur Einführung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems folge vielmehr aus einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG und somit aus arbeitsschutzrechtlichen Aspekten. § 3 Abs. 1 ArbSchG verpflichtet den Arbeitgeber, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG sieht darauf aufbauend vor, dass der Arbeitgeber zur Planung und Durchführung der Maßnahmen unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen hat. Es handelt sich bei § 3 ArbSchG um eine arbeitsschutzrechtliche Generalklausel, die dem Arbeitgeber keine konkreten Maßnahmen auferlegt, sondern seine Grundpflicht zur Schaffung einer geeigneten Arbeitsschutzorganisation festschreibt. Eine Konkretisierung dieser Grundpflicht erfolgt üblicherweise durch Normen in anderen Gesetzen (z.B. dem Arbeitssicherheitsgesetz) bzw. Verordnungen. Angesichts dessen ist es bemerkenswert, dass das BAG die konkrete Pflicht zur Etablierung einer Arbeitszeiterfassung nun in die Generalklausel hineinliest. 

Eine arbeitsschutzrechtliche Pflicht zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit könne dabei nach dem BAG neben den enger gefassten § 16 Abs. 2 ArbZG treten. Der Gesetzgeber habe mit der in § 16 Abs. 2 ArbZG normierten Aufzeichnungspflicht von Mehrarbeit die Arbeitszeitrichtlinie umsetzen wollen. Wenn jetzt der EuGH aus der Arbeitszeitrichtlinie eine allgemeine Erfassungspflicht ableite, stehe der in § 16 Abs. 2 ArbZG zum Ausdruck gelangte Wille des Gesetzgebers, nur Mehrarbeit aufzeichnen lassen zu wollen, einer entsprechenden richtlinienkonformen Auslegung des Arbeitsschutzrechts nicht entgegen.  

Welche inhaltlichen Anforderungen werden gestellt?

Der Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit wird nach Auffassung des BAG nicht dadurch entsprochen, dass den Arbeitnehmern ein entsprechendes System zur freigestellten Nutzung zur Verfügung gestellt wird. Von dem System müsse vielmehr tatsächlich Gebrauch gemacht werden. Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Überstunden müssen erfasst und aufgezeichnet werden. Wie dies zu geschehen hat, lässt das BAG explizit offen. Insbesondere besteht keine Pflicht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems, auch händische Lösungen und eine Delegation auf die Arbeitnehmer bleiben somit möglich. 

Entscheidend ist aber: Jeder Arbeitgeber muss eine Zeiterfassung einführen und ihre Nutzung anordnen und kontrollieren.

Ausnahmen für bestimmte Beschäftigte?

Ob die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit für alle Arbeitnehmer gilt, die unter das deutsche Arbeitszeitgesetz fallen, wird vom BAG nicht klar herausgearbeitet. Insoweit findet sich in der Entscheidung lediglich der Hinweis, dass sich die Arbeitszeiterfassung auf alle im „Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer i. S. d. § 5 Abs. 1 S. 1 BetrVG” erstreckt. Im Übrigen verweist das BAG auf die Möglichkeit des Gesetzgebers entsprechend Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG Sonderregelungen für bestimmte Arbeitnehmergruppen festzulegen. 

Wir meinen: Wenn man die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ausschließlich aus einer richtlinienkonformen Auslegung des § 3 Abs. 2 ArbSchG ableitet, dann müssen für diese Pflicht auch die der Richtlinie immanenten Beschränkungen gelten. Zweck der Erfassung von Arbeitszeiten ist die Überprüfung und Sicherstellung der Ruhezeiten (Art. 3 der Richtlinie), der Ruhepausen (Art. 4 der Richtlinie) und der wöchentlichen Höchstarbeitszeit (Art. 6 der Richtlinie). Art. 17 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie sieht Ausnahmen von diesen Regelungen für Arbeitnehmergruppen vor, bei denen „die Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen und/oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann“, insbesondere für „leitende Angestellte oder sonstige Personen mit selbstständiger Entscheidungsbefugnis.“

Die danach bestehenden Ausnahmen gehen weit über die Herausnahme von leitenden Angestellten und bestimmten Personengruppen hinaus, von denen der deutsche Gesetzgeber im Arbeitszeitgesetz Gebrauch gemacht hat. Die Niederlande hat hier bspw. in Umsetzung der Richtlinie eine Lohngrenze definiert, oberhalb derer die Regelungen zur Höchstarbeitszeit und den Ruhezeiten nicht gelten.

Natürlich besteht hier in erster Linie zwingender gesetzgeberischer Handlungsbedarf: Der deutsche Gesetzgeber sollte zum einen den Kreis der nicht vollständig unter das Arbeitszeitgesetz fallenden Arbeitnehmer neu und weiter definieren als bisher und vor allem auch in breiterem Umfang von der Opt-Out-Regelung des Art. 22 der Richtlinie Gebrauch machen, wonach bestimmte Personengruppen von den Regelungen zur Höchstarbeitszeit ausgenommen werden können. Das österreichische Arbeitszeitgesetz erlaubt bspw. berufsgruppenunabhängig eine wöchentliche Arbeitszeit von bis zu 60 und eine tägliche Arbeitszeit von bis zu 13 Stunden.

Bis zum Tätigwerden des Gesetzgebers müssen die Arbeitgeber und Betriebsparteien mit der Entscheidung des BAG leben. Nach unserer Überzeugung können sie dabei bei entsprechenden betrieblichen Regelungen ohne Verstoß gegen das Arbeitsschutzrecht Personengruppen ausnehmen, für die nach Art. 17 der Arbeitszeitrichtlinie Ausnahmen von der Höchstarbeitszeit und den Ruhezeiten möglich sind. 

Initiativrecht des Betriebsrats hinsichtlich der Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung 

Das BAG verneint zwar ein Initiativrecht des Betriebsrats bezüglich des „Ob“ der Zeiterfassung, bejaht aber ein entsprechendes Recht hinsichtlich der Ausgestaltung des Zeiterfassungssystems („Wie“). Einem entsprechenden Hilfsantrag des Betriebsrats wurde lediglich deshalb nicht stattgegeben, weil der Betriebsrat seinen Antrag auf die Ausgestaltung eines elektronischen Zeiterfassungssystems beschränkt hatte. Da sich aus der Richtlinie nicht zwingend eine Zeiterfassung in elektronischer Form ergibt, könne sich auch das dem Betriebsrat bei der Ausgestaltung eines solchen Zeiterfassungssystems zustehende Initiativrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG nicht darauf beschränken. 

Dem Betriebsrat kommt also, solange keine konkrete gesetzliche Regelung, sondern noch ein weiter Gestaltungsspielraum des Arbeitgebers besteht, ein umfassendes Mitbestimmungsrecht hinsichtlich des „Wie“ der Zeiterfassung zu.

Wir rechnen hier in den kommenden Monaten mit einer Flut von betrieblichen Regelungen. Dabei stellt die BAG-Entscheidung – anders als viele meinen – nicht das Ende der Vertrauensarbeitszeit dar. Diese muss lediglich mit einer Erfassung der Arbeitszeit durch den Arbeitnehmer kombiniert werden. Aus dieser Erfassung ergibt sich auch nicht zwingend eine Vergütungspflicht für jede geleistete Arbeitsstunde. Das BAG befasst sich nur mit den arbeitsschutzrechtlichen Aspekten der Arbeitszeit, die jedoch nicht stets deckungsgleich mit der vergütungsrechtlichen Perspektive sind. Ob und inwieweit die Entscheidung Erleichterungen für Arbeitnehmer bei der Darlegungs- und Beweislast in Prozessen über die Vergütung von Überstunden mit sich bringen wird, ist noch nicht absehbar – zuletzt hatte das BAG an der bereits etablierten abgestuften Verteilung festgehalten.

Fazit

Das BAG betätigt sich in seiner Entscheidung nicht zum ersten Mal als Ersatzgesetzgeber. Ob es hiermit seiner Pflicht zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung aus Art. 288 AEUV i. V. m. Art. 4 Abs. 3 EUV nachkommt oder doch eine Überschreitung der nationalen Auslegungsmethoden vorliegt, mag dahingestellt bleiben. Wir meinen, dass das BAG besser auf den Gesetzgeber hätte warten sollen, weil dieser im Zuge der Einführung einer Erfassungspflicht der Arbeitszeit auch die Spielräume und Ausnahmen der Arbeitszeitrichtlinie klar regeln und hierüber einen demokratisch legitimierten Konsens herstellen kann. In der Kombination mit den starren Regelungen unseres Arbeitszeitgesetzes wirkt die Entscheidung des BAG toxisch, weil viele Branchen jetzt vor der Frage stehen, ob sie ihre Arbeitszeitverstöße dokumentieren oder weiter auf eine Aufzeichnung verzichten sollen. Deutschland gerät im Vergleich zu anderen europäischen Ländern auch in einen massiven Wettbewerbsnachteil, wie die von uns beschriebenen Regelungen in Österreich oder der Niederlande zeigen. Der Gesetzgeber muss das Arbeitszeitgesetz jetzt schnell reformieren.  

Unsere Practice Group HR Compliance und Arbeitsschutz berät Sie sehr gerne zu diesem Thema.

Thomas Wahlig

Thomas Wahlig ist spezialisiert auf Unternehmenskäufe und –restrukturierungen, Betriebsübergangsrecht, Tarifrecht, komplexe Gerichtsverfahren sowie auf die Einführung von Arbeitszeitmodellen und Vergütungssystemen.

Meike Christine Rehner

Meike Christine Rehner ist spezialisiert auf internationales und europäisches Arbeitsrecht, Arbeitsschutz- und Arbeitssicherheitsrecht, Unternehmensrestrukturierungen und Kündigungsrechtsstreitigkeiten.

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