Darf man eigentlich auf einen Selbstmörder böse sein?
Googelt man diese Frage, wird man direkt in eine äußerst kontroverse ethische
und moralphilosophische Diskussion geführt, die ich hier nicht wiedergeben
möchte. Je nach Konfession (Katholik, Protestant, Moslem, Jude, Atheist,
Agnostiker) muss man dazu offenbar eine unterschiedliche Position vertreten.
Ich jedenfalls war böse, versuchte es mir aber ständig zu
verbieten und mich von anständigeren Gefühlen zu überzeugen, was mir aber nicht
gelang. Was war geschehen? Auf dem Weg von Berlin nach Hamburg, der eigentlich
nur eine Stunde und fünfundvierzig Minuten dauert, unternahmen wir auf freier
Strecke – gar nicht mehr weit von Hamburg entfernt – eine Vollbremsung, bei der
ich meinen Kaffee und mein Laptop festhalten musste, damit sie nicht quer durch
den Zug fliegen. Die Informationspolitik der Deutschen Bahn ist ja häufig
gewöhnungsbedürftig, in diesem Fall kam erst einmal ….. nichts.
Nach ca. 20 Minuten wurde uns dann mitgeteilt, es liege ein
Notfall vor, der unseren Zug betreffe, weitere 10 Minuten später war von einem
externen Notfall die Rede. Der Zugführer erläuterte dann, dass ein
Notfallmanagement-Team der Deutschen Bahn gemeinsam mit der Polizei den Zug untersuchen
und freigeben müsse, bevor wir weiterfahren dürften.
So weit, so schlecht.
Warum dann aber der Strom, die Klimaanlage und mein
geliebtes wifionice abgestellt wurden, ist mir nicht verständlich.
Erste Hamsterkäufe im Bistro (jemand vor mir nahm alle
verbliebenen Sweet Chili Chicken Sandwiches), ein morgens bereits betrunkener
Typ, der apokalyptische Verschwörungstheorien verbreitete, ein Mann, der Herr
Mehdorn jetzt aber mal endgültig seine Pension wegnehmen wollte und eine Sauna
namens ICE, in der man die Türen nur noch händisch mit Gewalt öffnen konnte. So
warteten wir geschlagene zweieinhalb Stunden. Die Zeit und mein Termin in
Hamburg rannen dahin, die vom Zugführer genährte Hoffnung, wir würden in einen
Ersatzzug evakuiert, erwies sich als trügerisch und plötzlich und vollkommen
unerwartet ging es einfach weiter. Der Zugführer dankte dem Lokführer, der
ausgewechselt worden war und wir liefen 20 Minuten später in Hamburg ein.
Mein Mandant teilte mir auf meinen Anruf hin mit, die
Interessenausgleichsverhandlungen seien auch ohne mich sehr gut vorangegangen
und ich müsse jetzt auch nicht mehr kommen. Ich stieg nach etwa 30 Minuten
Aufenthalt am Bahnhof in Hamburg in den nächsten ICE zurück nach Berlin.
Die Fahrt war gut, funktionierende Klimaanlage,
funktionierendes WLAN und nur 20 Minuten Verspätung. Ich dachte über meine
Ersetzbarkeit nach und dies half mir, meinen Groll zu überwinden und das alles
als eine Prüfung des Schicksals anzunehmen. Diese Einstellung hilft beim
Bahnfahren übrigens ungemein….
Und vermutlich war der Selbstmörder auch einfach nur ein Wildschwein. So geschehen vor einigen Monaten, als mein ICE unter ähnlichen Umständen in einem Tunnel vor Montabaur zum Halten kam. Uns hat man dann allerdings tatsächlich im spätabendlichen Montabaur am Bahnsteig rausgeschmissen und unserem Schicksal überlassen.