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Christine Wahlig (Rechtsanwältin – Redaktionelle Leitung Blog) & Alice Tanke (Marketing Managerin)

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Neues zur Massenentlassungsanzeige: Das Vorabentscheidungsersuchen des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts – Ein Schritt zurück oder Anlauf zum großen Sprung?

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Die Folgen einer fehlenden oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige beschäftigen die Rechtsprechung seit geraumer Zeit. Von der Praxis wird diese Thematik mit großem Interesse verfolgt, da es bei der Abgabe einer Massenentlassungsanzeige schnell zu formellen oder inhaltlichen Fehlern kommen kann, die bisher zur Unwirksamkeit der Kündigungen führten. Das Interesse der Praxis an Rechtsklarheit ist groß, die Arbeitgeber und Arbeitgebervertreter erhoffen sich dabei eine Rechtsprechungsänderung. 

Rechtlich komplex wird die Materie, weil sie ihre Ursprünge in der europarechtlichen Richtlinie 98/59/EG zu Massenentlassungen hat, die durch die deutsche Umsetzung in den §§ 17 f. KSchG in nationales Recht transformiert wurde. Aus diesem Grunde sind nicht allein die deutschen Arbeitsgerichte, sondern final der Europäische Gerichtshof (EuGH) berufen, Streitigkeiten zu klären, wobei der EuGH nur dann entscheidet, wenn er von nationalen Gerichten, insbesondere dem BAG hierzu angerufen wird. Gerade unter der neuen Präsidentin Inken Gallner macht das BAG von der Vorlagemöglichkeit an den EuGH konsequent Gebrauch. Viele wichtige Rechtsfragen werden deshalb final erst durch Entscheidungen des EuGH geklärt. 

Die deutschen Gerichte legen also eine für die nationale Rechtsanwendung bedeutsame Frage zur Auslegung einer europäischen Richtline dem EuGH vor, dieser beantwortet die Frage und die deutschen Gerichte sind sodann berufen, diese Antwort bei der Auslegung nationalen Rechts zu berücksichtigen. Diese alternativlose Vorgehensweise führt dazu, dass es oftmals mehrere Jahre dauert, bis eine Rechtsprechungsänderung eintritt und bis für die rechtsanwendenden Unternehmen tatsächlich Klarheit über zentrale Rechtsfragen besteht.

I. Die Vorgeschichte: Vorlage des BAG, Urteil des EuGH und Beschluss des BAG im Jahr 2023

Insofern sorgten ein Urteil des EuGH im Juli 2023 und ein Beschluss des Bundesarbeitsgerichts im Dezember 2023 für großen Optimismus auf Seiten von Unternehmen. Sie legten den Schluss nahe, dass die Unwirksamkeitsfolge einer fehlenden oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige (in naher Zukunft) der Vergangenheit angehören würden. 

1. Urteil des EuGH vom 13. Juli 2023

So stellte der EuGH – als Antwort auf eine Vorlagefrage des Bundesarbeitsgerichts vom 27. Januar 2022 – fest, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, der zuständigen Behörde eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zu übermitteln, den Arbeitnehmern keinen Individualschutz gewähren soll. Hieraus wurde sodann geschlussfolgert, dass die Verletzung dieser Verpflichtung (die in Deutschland in § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG geregelt ist) nicht zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen soll (siehe hierzu auch unseren Beitrag). 

2. Beschluss des BAG vom 14. Dezember 2023

Hiernach war erneut das Bundesarbeitsgericht am Zuge. Um die Entscheidung des EuGH bei weiteren Verfahren zur Massenentlassungsanzeige berücksichtigen zu können, hatte es im Frühjahr 2023 sogar laufende Verfahren zur Massenentlassungsanzeige ausgesetzt. 

Nachdem die Entscheidung des EuGH feststand, konnte diese auch das BAG berücksichtigen und stellte fest, dass die Rechtsprechung, wonach eine Kündigung unwirksam sei, wenn keine (wirksame) Massenentlassungsanzeige an die Agentur für Arbeit gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt, aufgegeben werden solle (siehe hierzu unseren Blogbeitrag).

Dies würde bedeuten, dass lediglich die Nichterteilung von Auskünften an den Betriebsrat (§ 17 Abs. 2 KSchG) zu einer Unwirksamkeit einer Kündigung führen kann; die Nichterstattung einer Anzeige bei der Bundesagentur für Arbeit solle hingegen ebenso wenig wie die fehlerhafte Erstattung einer solchen Anzeige oder die Nichtzuleitung einer Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zu ihrer Unwirksamkeit führen.

Maßgeblich stützte das Bundesarbeitsgericht sich darauf, dass weder das deutsche Recht noch die europarechtliche Massenentlassungsrichtlinie die Unwirksamkeit einer Kündigung als Rechtsfolge der Verstöße gegen die Pflichten aus § 17 Abs. 1, 3 KSchG vorsieht. Es handle sich bereits um eine ungeeignete Sanktion, da die individual-arbeitsvertraglichen und arbeitsmarktpolitischen Ebenen vermischt würden. Zudem sei diese Folge unverhältnismäßig.

Gleichwohl war die Hoffnung auf einen (sofortigen) Wegfall der Unwirksamkeitsfolge verfrüht: Im hiesigen Fall entschied „nur“ der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts. Der 2. Senat vertrat hingegen – zuletzt im November 2012 – die Sichtweise, dass die Kündigung bei Verletzung von § 17 Abs. 1, 3 KSchG unwirksam sei. 

Um diesen Konflikt – verbindlich – zu klären und Rechtssicherheit herzustellen, stellte der 6. Senat sodann die formelle, im Arbeitsgerichtsgesetz vorgesehene, Anfrage an den 2. Senat, ob dieser an seiner Sichtweise festhalten möchte oder die Begründung des 6. Senats teilt. Nur im letztgenannten Fall würde eine Rechtsprechungsänderung tatsächlich unmittelbar eintreten. Im erstgenannten Fall würde ein sog. Großer Senat am Bundesarbeitsgericht als finale Instanz verbindlich entscheiden.

II. Die Entscheidung des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 1. Februar 2024

Die Antwort des 2. Senats kam schneller als erwartet – und überrascht in der Sache. Weder teilte er die Ansicht des 6. Senats noch lehnte er diese ausdrücklich ab. Stattdessen erfolgt eine erneute Vorlagefrage an den Europäischen Gerichtshof, da es aus Sicht des 2. Senats zur Beantwortung der Frage des 6. Senats der weiteren Auslegung von Europarecht bedarf. Nach seiner Auffassung sind noch nicht alle relevanten Fragen vom EuGH geklärt.

Der 2. Senat bezieht sich ausdrücklich nicht auf die – bereits vom EuGH entschiedene – Auslegung des § 17 Abs. 1, 3 KSchG und der entsprechenden Rechtsfolgen. Vielmehr beziehen sich die Vorlagefragen auf die Entlassungssperre nach § 18 KSchG, die ihren Ursprung ebenfalls in der Massenentlassungsrichtlinie hat. Diese sieht vor, dass Entlassungen, die nach § 17 KSchG anzuzeigen sind, erst einen Monat nach Eingang der Anzeige wirksam werden. Zusammengefasst soll der EuGH darüber entscheiden, ob es einer (fehlerfreien) Massenentlassungsanzeige bedarf, um den Fristbeginn der Entlassungssperre auszulösen und ob die Entlassungssperre möglicherweise durch eine nachgeholte Massenentlassungsanzeige nachträglich beendet werden kann. Es geht mithin darum, ob die Rechtsfolgen der Unwirksamkeit der Kündigung aus § 18 KSchG statt aus – dem vom 6. Senat abgelehnten – § 17 Abs. 1, 3 KSchG resultieren können. Geht man davon aus, dass nur eine wirksame und fehlerfreie Massenentlassungsanzeige die Monatsfrist für die Entlassungssperre auslösen kann, so würde die Frist bei einer fehlerhaften oder unterbliebenen Massenentlassungsanzeige nicht in Gang gesetzt – mit der Folge, dass ungeachtet der Rechtsfolge zu § 17 KSchG die Entlassung gesperrt bleibt. 

Für die Praxis macht es keinen Unterschied, ob sich eine mögliche Unwirksamkeit einer Kündigung aus der Verletzung von § 17 Abs. 1, 3 KSchG oder aus der Entlassungssperre aus § 18 Abs. 1 KSchG ergibt. Für eine umfassende Rechtsprechungsänderung – wonach die fehlende oder fehlerhafte Anzeige bei der Agentur für Arbeit nicht zu einer Unwirksamkeit der Kündigung führt – bedarf es aber zwingend der Gewissheit darüber, dass eine solche Unwirksamkeitsfolge weder aus § 17 noch aus § 18 KSchG resultiert. Ansonsten würde eine Entscheidung nur scheinbar Sicherheit bringen, da stets das Damoklesschwert der Unwirksamkeit nach § 18 Abs. 1 KSchG über der Kündigung schweben würde.

Insofern wird die Vorlagefrage des 2. Senats dabei helfen, eine abschließende Lösung zu finden und umfassende Klarheit über die Folgen von Fehlern bei der Massenentlassungsanzeige zu erhalten.

III. Ein Ausblick – Kommt das Ende der Sanktion bei fehlender und fehlerhafter Massenentlassungsanzeige?

Damit heißt es erneut: Warten auf eine Entscheidung des EuGH. Diese Verzögerung mag zurecht kritisiert werden und hätte ggf. im Vorfeld durch entsprechend formulierte Vorlagefragen verhindert werden können. Dennoch bleibt zu hoffen, dass der EuGH nun endgültige und umfassende Klarheit über die Folgen von Fehlern bei der Massenentlassungsanzeige sowohl im Hinblick auf § 17 KSchG als auch auf § 18 KSchG bringt. 

Bis es so weit ist, bleibt alles wie bisher und es ist äußerste Vorsicht und Sorgfalt bei der Abgabe von Massenentlassungsanzeigen geboten. 

Selbst wenn aber EuGH (und BAG) die Unwirksamkeitsfolge ablehnen, müssen fehlerhafte oder fehlende Massenentlassungsanzeigen mit Sanktionen belegt werden. So weist der 6. Senat ausdrücklich darauf hin, dass die „gebotene Sanktion […] vom Gesetzgeber bestimmt werden“ muss. Berücksichtigt man, wie behäbig der Gesetzgeber bei Änderungen im Arbeitsrecht meist vorgeht, ist die nächste Verzögerung hier schon vorprogrammiert. Bis zu einer gesetzlichen Regelung wird sicherlich noch einige Zeit vergehen.

Thomas Wahlig

Thomas Wahlig ist spezialisiert auf Unternehmenskäufe und –restrukturierungen, Betriebsübergangsrecht, Tarifrecht, komplexe Gerichtsverfahren sowie auf die Einführung von Arbeitszeitmodellen und Vergütungssystemen.

Tom Stiebert

Tom Stiebert ist spezialisiert auf die Beratung zu grenzüberschreitenden Sachverhalten, die Erstellung von Compliancesystemen zum rechtssicheren Fremdpersonaleinsatz und Beratung zu Betriebsprüfungen.

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