Anwendungsbereich Tarifvertrag
Die Ausgestaltung des Anwendungsbereichs eines Tarifvertrages durch die Tarifvertragsparteien ist nicht ungewöhnlich. Gleiches gilt für die Gestaltung von Voraussetzungen durch die Tarifvertragsparteien für die Gewährung eines Anspruchs aus dem Tarifvertrag. Dies ist jedoch nicht schrankenlos möglich, wie des BAG in seiner Entscheidung vom 13. Mai 2020 – 4 AZR 489/19 – deutlich macht.
In dem der Entscheidung des BAG zugrunde liegenden Fall schloss eine bislang nicht tarifgebundene Arbeitgeberin mit der IG Metall einen Mantel- und Entgeltrahmentarifvertrag. Die Tarifvertragsparteien legten in § 37 des Manteltarifvertrages fest, dass “Ansprüche aus diesem Tarifvertrag [voraus]setzen …, dass die Einführung des Tarifwerks auch arbeitsvertraglich nachvollzogen wird”. Nach dem Verständnis der Tarifvertragsparteien bedeutete dies, dass das Tarifwerk nur Anwendung finden sollte, wenn der Arbeitsvertrag eine Bezugnahmeklausel enthält. Hiergegen wandte sich eine gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiterin der Arbeitgeberin und forderte die Gewährung der tariflichen Vergütung ein. Sie hatte trotz ihrer Mitgliedschaft in der IG Metall keine tariflichen Leistungen erhalten. Den Abschluss eines neuen Arbeitsvertrages, der die erforderliche Bezugnahme enthalten hätte, hatte die Mitarbeiterin verweigert.
Tarifgebundenheit
Das BAG bejahte die Ansprüche der Klägerin aus dem Tarifvertrag. Es stellte darauf ab, dass der Klägerin die Ansprüche aus dem Tarifvertrag bereits allein wegen der beiderseitigen Tarifgebundenheit zustehen. Ansprüche aus einem Tarifvertrag könnten hingegen nicht von den vorgesehenen individualrechtlichen Umsetzungsmaßnahmen der Arbeitsvertragsparteien abhängig gemacht werden. Dies sei richtigerweise nicht mit § 4 Abs. 1 TVG vereinbar. Auch das durch § 4 Abs. 3 TVG geschützte Günstigkeitsprinzip steht nach der Einschätzung des BAG einer solchen Regelung entgegen. Tarifvertragliche Bestimmungen, die eine “arbeitsvertragliche Nachvollziehung” verlangen, sind daher nach dem BAG unwirksam.
Tarifautonomie
Über die Intention der Tarifvertragsparteien, warum eine solche Regelung in den Tarifvertrag aufgenommen wurde, kann nur spekuliert werden. Es liegt nahe, dass die Arbeitgeberin mit der Begründung einer Tarifbindung zugleich die Arbeitsverträge aller Mitarbeiter synchronisieren wollte und das in § 4 Abs. 3 TVG vorgesehene Günstigkeitsprinzip bei Gewerkschaftsmitgliedern nicht zur Geltung kommen sollte, indem neue Arbeitsverträge mit Bezugnahmeklausel geschlossen werden sollten. Dass die Gewerkschaft sich auf eine solche Regelung einließ und damit die kongruente Tarifgebundenheit (und also die Gewerkschaftszugehörigkeit) als Grundlage für die Geltung eines Tarifvertrages opferte, halten wir aber für fragwürdig. Es zeigt, dass auch die Gewerkschaften inzwischen erkannt haben dürften, dass die Geltung eines Tarifvertrages allein auf Basis von Tarifgebundenheit nicht mehr funktioniert. Dass man dann aber einer tarifgebundenen Arbeitnehmerin tarifliche Ansprüche verwehrt, weil sie sich nicht auf eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel einlassen möchte, grenzt an eine Selbstaufgabe der Gewerkschaft. Die konkrete Gestaltung des streitgegenständlichen MTV wurde vom BAG als nicht rechtskonform angesehen. Mit Blick auf die unterstellte Absicht der Tarifvertragsparteien ist die kritische Haltung des BAG zumindest in Bezug auf die konkrete Gestaltung nachvollziehbar. Gleichwohl wird man die detaillierten Entscheidungsgründe des BAG abwarten müssen, um zu sehen, wie es das BAG einordnet, dass es den Tarifvertragsparteien im Rahmen ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie grundsätzlich auch möglich ist, die Gewährung tariflicher Leistungen von der Erfüllung festgelegter Voraussetzungen abhängig zu machen.
Günstigkeitsprinzip
Nachvollziehbar ist, dass die grundsätzliche Tarifbindung und das Günstigkeitsprinzip durch entsprechende Voraussetzungen nicht gänzlich ausgehöhlt werden können. Auch der Verweis des BAG auf § 4 Abs. 1 TVG ist im konkreten Fall nachvollziehbar. Gleichwohl ist anzumerken, dass § 4 Abs. 1 TVG eine Tarifgebundenheit für Arbeitgeber und Arbeitnehmer anordnet, die unter den Geltungsbereich eines Tarifvertrags fallen. Den Tarifvertragsparteien ist es jedoch nicht verwehrt, den Geltungsbereich zu definieren. Insoweit wäre es ggf. ein Ansatz gewesen, den Geltungsbereich auf Arbeitnehmer mit arbeitsvertraglicher Bezugnahmeregelung zu beschränken. Ob dieser etwas andere Ansatz mit der zugegeben gleichen Intention vom BAG gebilligt worden wäre, lässt sich nicht ohne weiteres beantworten. Man wird die Entscheidungsgründe des BAG abwarten müssen, ob lediglich die konkrete Ausgestaltung oder eine entsprechende Einschränkung generell mit dem TVG unvereinbar ist.