Neues aus der Practice Group Restructuring
Der Arbeitgeber hat auf der Grundlage eines
Strukturtarifvertrages mit der IG Metall gemeinsam mit anderen
Konzernunternehmen seine Betriebsstätten in Hamburg, Berlin und Leipzig zu
einem Betrieb „Region Nord-Ost“ zusammengefasst.
Einige Zeit später schließt der Arbeitgeber seine
Betriebsstätte in Berlin und entlässt alle Arbeitnehmer durch ordentliche
Kündigungen. Darunter befindet sich auch ein Ersatzmitglied des Betriebsrates
Region Nord-Ost, das noch sieben Monate vor der Kündigung an einer Betriebsratssitzung
teilgenommen hatte.
Der Arbeitnehmer erhebt Kündigungsschutzklage und beruft
sich vor allem auf § 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG: Danach ist die Kündigung eines
Betriebsratsmitgliedes innerhalb eines Jahres nach Ende der Amtszeit nur aus
wichtigem Grund mit Zustimmung des Betriebsrates möglich. Bei Ersatzmitgliedern
wird diese Jahresfrist vom Zeitpunkt der letzten Teilnahme an einer
Betriebsratssitzung an gerechnet.
Der Arbeitgeber beruft sich auf § 15 Abs. 4 KschG: Danach ist
die Kündigung von Betriebsratsmitgliedern bei Stilllegung eines Betriebes auf
den Zeitpunkt der Stilllegung zulässig.
Nimmt man den durch den Strukturtarifvertrag geschaffenen
Betrieb Region Nord-Ost, so handelt es sich nicht um eine Betriebsstilllegung,
weil nur eine von mehreren Betriebsstätten (nämlich Berlin) geschlossen wird.
Es könnte dann allenfalls § 15 Abs. 5 KSchG eingreifen. Danach kann ein
Betriebsratsmitglied auch bei Stilllegung einer Betriebsabteilung gekündigt
werden, wenn es aus betrieblichen Gründen ausnahmsweise nicht in eine andere
Betriebsabteilung übernommen werden kann. Hierzu hatte der Arbeitgeber keine
hinreichenden Tatsachen vorgetragen, so dass die Kündigung in diesem Fall
unwirksam wäre.
Die entscheidende
Rechtsfrage
Entscheidend ist also, ob der durch Strukturtarifvertrag
geschaffene Betrieb auch für die Frage des Kündigungsschutzes, hier
insbesondere für die Anwendbarkeit von § 15 KSchG, zugrunde zu legen ist oder
nicht. Gemäß § 3 Abs. 5 BetrVG gelten die durch Tarifvertrag gebildeten
Organisationseinheiten als Betriebe im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes.
Auf die in ihnen gebildeten Arbeitnehmervertretungen finden die Vorschriften
über die Rechte und Pflichten des Betriebsrates und die Rechtsstellung seiner
Mitglieder Anwendung. Dies spricht dafür, auch § 15 KSchG für die
Betriebsratsmitglieder des Betriebsrates Region Nord-Ost anzuwenden und ihnen
(nachwirkenden) Kündigungsschutz zu gewähren. Dies bejaht auch das
Bundesarbeitsgericht. Anders als noch die Vorinstanz, das LAG Berlin, geht das
Bundesarbeitsgericht aber davon aus, dass vorliegend eine Betriebsstilllegung
im Sinne des § 15 Abs. 4 KSchG vorliegt, so dass eine betriebsbedingte
Kündigung zulässig ist.
Für den Begriff des Betriebes und damit auch die Frage einer Betriebsstilllegung sei nämlich nicht auf den durch einen Strukturtarifvertrag geschaffenen Betrieb im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes, sondern auf den allgemeinen, dem Kündigungsschutzgesetz zugrunde liegenden, Betriebsbegriff abzustellen. Die gesetzliche Fiktion des § 3 Abs. 5 BetrVG sei auf das Betriebsverfassungsgesetz begrenzt und im Kündigungsschutzrecht nicht anwendbar. Dies begründet das BAG eingehend und überzeugend: Der Gesetzgeber hätte die Fiktionswirkung des § 3 Abs. 5 BetrVG auf § 15 KSchG erstrecken müssen, hat dies aber nicht getan. § 3 BetrVG ist eine Organisationsvorschrift des Betriebsverfassungsgesetzes und ermöglicht, vom allgemeinen Betriebsbegriff abweichende Strukturen durch Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag zu schaffen. Dies kann nicht einfach auf das Kündigungsschutzrecht übertragen werden. Für alle den Kündigungsschutz betreffenden Fragen spielt daher die durch einen Tarifvertrag geschaffene Organisationsstruktur keine Rolle, es bleibt vielmehr bei der Anwendung des allgemeinen Betriebsbegriffs. Danach ist ein Betrieb eine organisatorische Einheit, innerhalb derer ein Arbeitgeber mit seinen Arbeitnehmern und unter Einsatz materieller und immaterieller Betriebsmittel einen oder mehrere arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. Entscheidendes Merkmal ist die durch einen einheitlichen Leitungsapparat in personellen und sozialen Angelegenheiten gekennzeichnete organisatorische Einheit. Es spricht vorliegend nach Einschätzung des BAG viel dafür, dass es sich bei dem Standort Berlin um einen Betrieb in diesem Sinne handelt.
Der durch den Strukturtarifvertrag geschaffene
betriebsverfassungsrechtliche Betrieb kann jedenfalls vorliegend nicht zugleich
ein Betrieb im Sinne des KSchG sein. Der Betrieb Nord-Ost umfasst mehrere
Standorte und mehrere Unternehmen. Zwar gibt es auch im Kündigungsschutzrecht
die Figur des gemeinsamen Betriebes mehrerer Unternehmen. Ein solcher besteht,
wenn zwei oder mehr Unternehmen die in einer Betriebsstätte vorhandenen
Betriebsmittel für einen einheitlichen arbeitstechnischen Zweck
zusammengefasst, geordnet und gezielt einsetzen und sich hierzu auf Grundlage
einer Führungsvereinbarung verbunden haben. Vorliegend gab es jedoch keine
Anhaltspunkte für das Bestehen einer solchen Führungsvereinbarung. Das LAG
Berlin hatte in der Vorinstanz versucht, diese aus dem Strukturvertrag
abzuleiten und nebulös von einer durch den Strukturtarifvertrag geschaffenen
„Produktionsgemeinschaft“ der Unternehmen gesprochen. Dem erteilt das BAG zu
Recht eine Absage. Zwar kann die in einem Strukturtarifvertrag geschaffene
Abrede auch eine Führungsvereinbarung darstellen. Hierzu bedarf es aber
konkreter Anhaltspunkte. Es muss dann tatsächlich eine einheitliche standort-
und unternehmensübergreifende einheitliche Leitung gebildet worden sein und ein
übergreifender Einsatz der Mitarbeiter erfolgen. Dafür gab es keine
Anhaltspunkte.
Fazit
Im Ergebnis bleibt festzuhalten:
Die durch eine Strukturvereinbarung geschaffenen Organisationseinheiten gelten nur betriebsverfassungsrechtlich als Betriebe. Prüft man betriebsbezogene Regelungen des Kündigungsschutzgesetzes, bspw. die Sozialauswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG oder die Frage, ob eine Betriebsstilllegung im Sinne des § 15 Abs. 4 KSchG vorliegt, so bleibt es bei der Geltung und Anwendung des allgemeinen Betriebsbegriffs. Dieses Auseinanderfallen des betriebsverfassungsrechtlichen und kündigungsschutzrechtlichen Betriebes erschwert die Rechtsanwendung erheblich. Der Arbeitgeber muss ungeachtet seiner betriebsverfassungsrechtlichen Strukturen immer mit bedenken, wie seine betrieblichen Strukturen ohne Strukturvereinbarung aussehen, wenn er Mitarbeiter betriebsbedingt entlassen möchte. Dies wird in der Praxis häufig schief gehen mit der Folge, dass Kündigungen unwirksam sind. Dass sich die eigentlichen betrieblichen Strukturen ausnahmsweise zugunsten des Arbeitgebers auswirken, wie in der besprochenen Entscheidung, ist eher die Ausnahme.
Handlungsempfehlung
für die Praxis
Klüger dürfte es deshalb häufig sein, betriebliche
Strukturen ohne Strukturvereinbarung gemäß § 3 BetrVG oder parallel dazu durch
Schaffung entsprechender Leitungs- und Organisationsstrukturen so zu gestalten,
dass die vom Arbeitgeber gewünschte Struktur betriebsverfassungs- und
kündigungsschutzrechtlich einheitlich abgebildet wird. Durch eine einheitliche regionale
Leitung in personellen und sozialen Angelegenheiten können bspw. auch ohne
Strukturvereinbarung Regionalbetriebsräte geschaffen werden, auch die Bildung
gemeinsamer Betriebe mehrerer Unternehmen ist, wie bereits dargelegt, im
Kündigungsschutz- und Betriebsverfassungsrecht möglich. Entscheidend ist, dass
der Arbeitgeber selbst durch die von ihm bestimmbaren Leitungs- und
Organisationsstrukturen eine Organisation schafft, die im Sinne der Definition
des Betriebsbegriffs als Betrieb gilt. Dies ist in vielen Fällen durchaus
möglich.
Der Gestaltung von Betrieben ohne Vereinbarung gemäß § 3
BetrVG sind natürlich auch Grenzen gesetzt: Zum einen müssen die so
geschaffenen Betriebe tatsächlich mit entsprechenden Leitungs- und
Organisationsstrukturen des Arbeitgebers korrespondieren; zum anderen kann
nicht jeder durch eine Strukturvereinbarung gestaltbare Betrieb auch ohne eine
solche Vereinbarung geschaffen werden. Dies gilt wohl auch für den hier vorgefundenen
standort- und unternehmensübergreifenden Betrieb Region Nord-Ost, weil die
Errichtung eines gemeinsamen Betriebes mehrerer Unternehmen nach der bisherigen
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine gemeinsame Betriebsstätte
erfordert. Ohne Strukturtarifvertrag gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG kann ein
solcher Betrieb bislang also nicht geschaffen werden.
Im Zuge des zunehmenden Bedeutungsverlustes gemeinsamer Betriebsstätten aufgrund der Digitalisierung und der rasanten Zunahme mobiler Arbeitsformen wird man jedoch überlegen müssen, ob das Kriterium einer gemeinsamen Betriebsstätte für die Existenz eines gemeinsamen Betriebes mehrerer Unternehmen weiterhin konstitutiv sein muss. Ich meine, dass ein gemeinsamer Betrieb mehrerer Unternehmen auch besteht, wenn diese Unternehmen sich aufgrund einer Führungsvereinbarung einer einheitlichen Leitung in personellen und sozialen Angelegenheiten unterstellen, über mehrere Standorte verfügen, dennoch aber ihre Betriebsmittel und Mitarbeiter zur Verfolgung eines arbeitstechnischen Zweckes standort- und unternehmensübergreifend geordnet und gezielt einsetzen.
Unsere Practice Group Restructuring berät Sie sehr gerne zu diesem Thema.