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Christine Wahlig (Rechtsanwältin – Redaktionelle Leitung Blog) & Alice Tanke (Marketing Managerin)

Inside Workplace Law

Betrieb ist nicht gleich Betrieb – BAG vom 27. Juni 2019 (2 AZR 38/19)

Buerogebaeude von vorne

Neues aus der Practice Group Restructuring

Der Arbeitgeber hat auf der Grundlage eines Strukturtarifvertrages mit der IG Metall gemeinsam mit anderen Konzernunternehmen seine Betriebsstätten in Hamburg, Berlin und Leipzig zu einem Betrieb „Region Nord-Ost“ zusammengefasst.  

Einige Zeit später schließt der Arbeitgeber seine Betriebsstätte in Berlin und entlässt alle Arbeitnehmer durch ordentliche Kündigungen. Darunter befindet sich auch ein Ersatzmitglied des Betriebsrates Region Nord-Ost, das noch sieben Monate vor der Kündigung an einer Betriebsratssitzung teilgenommen hatte.

Der Arbeitnehmer erhebt Kündigungsschutzklage und beruft sich vor allem auf § 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG: Danach ist die Kündigung eines Betriebsratsmitgliedes innerhalb eines Jahres nach Ende der Amtszeit nur aus wichtigem Grund mit Zustimmung des Betriebsrates möglich. Bei Ersatzmitgliedern wird diese Jahresfrist vom Zeitpunkt der letzten Teilnahme an einer Betriebsratssitzung an gerechnet.

Der Arbeitgeber beruft sich auf § 15 Abs. 4 KschG: Danach ist die Kündigung von Betriebsratsmitgliedern bei Stilllegung eines Betriebes auf den Zeitpunkt der Stilllegung zulässig.

Nimmt man den durch den Strukturtarifvertrag geschaffenen Betrieb Region Nord-Ost, so handelt es sich nicht um eine Betriebsstilllegung, weil nur eine von mehreren Betriebsstätten (nämlich Berlin) geschlossen wird. Es könnte dann allenfalls § 15 Abs. 5 KSchG eingreifen. Danach kann ein Betriebsratsmitglied auch bei Stilllegung einer Betriebsabteilung gekündigt werden, wenn es aus betrieblichen Gründen ausnahmsweise nicht in eine andere Betriebsabteilung übernommen werden kann. Hierzu hatte der Arbeitgeber keine hinreichenden Tatsachen vorgetragen, so dass die Kündigung in diesem Fall unwirksam wäre.

Die entscheidende Rechtsfrage

Entscheidend ist also, ob der durch Strukturtarifvertrag geschaffene Betrieb auch für die Frage des Kündigungsschutzes, hier insbesondere für die Anwendbarkeit von § 15 KSchG, zugrunde zu legen ist oder nicht. Gemäß § 3 Abs. 5 BetrVG gelten die durch Tarifvertrag gebildeten Organisationseinheiten als Betriebe im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes. Auf die in ihnen gebildeten Arbeitnehmervertretungen finden die Vorschriften über die Rechte und Pflichten des Betriebsrates und die Rechtsstellung seiner Mitglieder Anwendung. Dies spricht dafür, auch § 15 KSchG für die Betriebsratsmitglieder des Betriebsrates Region Nord-Ost anzuwenden und ihnen (nachwirkenden) Kündigungsschutz zu gewähren. Dies bejaht auch das Bundesarbeitsgericht. Anders als noch die Vorinstanz, das LAG Berlin, geht das Bundesarbeitsgericht aber davon aus, dass vorliegend eine Betriebsstilllegung im Sinne des § 15 Abs. 4 KSchG vorliegt, so dass eine betriebsbedingte Kündigung zulässig ist.

Für den Begriff des Betriebes und damit auch die Frage einer Betriebsstilllegung sei nämlich nicht auf den durch einen Strukturtarifvertrag geschaffenen Betrieb im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes, sondern auf den allgemeinen, dem Kündigungsschutzgesetz zugrunde liegenden, Betriebsbegriff abzustellen. Die gesetzliche Fiktion des § 3 Abs. 5 BetrVG sei auf das Betriebsverfassungsgesetz begrenzt und im Kündigungsschutzrecht nicht anwendbar. Dies begründet das BAG eingehend und überzeugend: Der Gesetzgeber hätte die Fiktionswirkung des § 3 Abs. 5 BetrVG auf § 15 KSchG erstrecken müssen, hat dies aber nicht getan. § 3 BetrVG ist eine Organisationsvorschrift des Betriebsverfassungsgesetzes und ermöglicht, vom allgemeinen Betriebsbegriff abweichende Strukturen durch Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag zu schaffen. Dies kann nicht einfach auf das Kündigungsschutzrecht übertragen werden. Für alle den Kündigungsschutz betreffenden Fragen spielt daher die durch einen Tarifvertrag geschaffene Organisationsstruktur keine Rolle, es bleibt vielmehr bei der Anwendung des allgemeinen Betriebsbegriffs. Danach ist ein Betrieb eine organisatorische Einheit, innerhalb derer ein Arbeitgeber mit seinen Arbeitnehmern und unter Einsatz materieller und immaterieller Betriebsmittel einen oder mehrere arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. Entscheidendes Merkmal ist die durch einen einheitlichen Leitungsapparat in personellen und sozialen Angelegenheiten gekennzeichnete organisatorische Einheit. Es spricht vorliegend nach Einschätzung des BAG viel dafür, dass es sich bei dem Standort Berlin um einen Betrieb in diesem Sinne handelt.

Der durch den Strukturtarifvertrag geschaffene betriebsverfassungsrechtliche Betrieb kann jedenfalls vorliegend nicht zugleich ein Betrieb im Sinne des KSchG sein. Der Betrieb Nord-Ost umfasst mehrere Standorte und mehrere Unternehmen. Zwar gibt es auch im Kündigungsschutzrecht die Figur des gemeinsamen Betriebes mehrerer Unternehmen. Ein solcher besteht, wenn zwei oder mehr Unternehmen die in einer Betriebsstätte vorhandenen Betriebsmittel für einen einheitlichen arbeitstechnischen Zweck zusammengefasst, geordnet und gezielt einsetzen und sich hierzu auf Grundlage einer Führungsvereinbarung verbunden haben. Vorliegend gab es jedoch keine Anhaltspunkte für das Bestehen einer solchen Führungsvereinbarung. Das LAG Berlin hatte in der Vorinstanz versucht, diese aus dem Strukturvertrag abzuleiten und nebulös von einer durch den Strukturtarifvertrag geschaffenen „Produktionsgemeinschaft“ der Unternehmen gesprochen. Dem erteilt das BAG zu Recht eine Absage. Zwar kann die in einem Strukturtarifvertrag geschaffene Abrede auch eine Führungsvereinbarung darstellen. Hierzu bedarf es aber konkreter Anhaltspunkte. Es muss dann tatsächlich eine einheitliche standort- und unternehmensübergreifende einheitliche Leitung gebildet worden sein und ein übergreifender Einsatz der Mitarbeiter erfolgen. Dafür gab es keine Anhaltspunkte.  

Fazit

Im Ergebnis bleibt festzuhalten:

Die durch eine Strukturvereinbarung geschaffenen Organisationseinheiten gelten nur betriebsverfassungsrechtlich als Betriebe. Prüft man betriebsbezogene Regelungen des Kündigungsschutzgesetzes, bspw. die Sozialauswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG oder die Frage, ob eine Betriebsstilllegung im Sinne des § 15 Abs. 4 KSchG vorliegt, so bleibt es bei der Geltung und Anwendung des allgemeinen Betriebsbegriffs. Dieses Auseinanderfallen des betriebsverfassungsrechtlichen und kündigungsschutzrechtlichen Betriebes erschwert die Rechtsanwendung erheblich. Der Arbeitgeber muss ungeachtet seiner betriebsverfassungsrechtlichen Strukturen immer mit bedenken, wie seine betrieblichen Strukturen ohne Strukturvereinbarung aussehen, wenn er Mitarbeiter betriebsbedingt entlassen möchte. Dies wird in der Praxis häufig schief gehen mit der Folge, dass Kündigungen unwirksam sind. Dass sich die eigentlichen betrieblichen Strukturen ausnahmsweise zugunsten des Arbeitgebers auswirken, wie in der besprochenen Entscheidung, ist eher die Ausnahme.

Handlungsempfehlung für die Praxis

Klüger dürfte es deshalb häufig sein, betriebliche Strukturen ohne Strukturvereinbarung gemäß § 3 BetrVG oder parallel dazu durch Schaffung entsprechender Leitungs- und Organisationsstrukturen so zu gestalten, dass die vom Arbeitgeber gewünschte Struktur betriebsverfassungs- und kündigungsschutzrechtlich einheitlich abgebildet wird. Durch eine einheitliche regionale Leitung in personellen und sozialen Angelegenheiten können bspw. auch ohne Strukturvereinbarung Regionalbetriebsräte geschaffen werden, auch die Bildung gemeinsamer Betriebe mehrerer Unternehmen ist, wie bereits dargelegt, im Kündigungsschutz- und Betriebsverfassungsrecht möglich. Entscheidend ist, dass der Arbeitgeber selbst durch die von ihm bestimmbaren Leitungs- und Organisationsstrukturen eine Organisation schafft, die im Sinne der Definition des Betriebsbegriffs als Betrieb gilt. Dies ist in vielen Fällen durchaus möglich.  

Der Gestaltung von Betrieben ohne Vereinbarung gemäß § 3 BetrVG sind natürlich auch Grenzen gesetzt: Zum einen müssen die so geschaffenen Betriebe tatsächlich mit entsprechenden Leitungs- und Organisationsstrukturen des Arbeitgebers korrespondieren; zum anderen kann nicht jeder durch eine Strukturvereinbarung gestaltbare Betrieb auch ohne eine solche Vereinbarung geschaffen werden. Dies gilt wohl auch für den hier vorgefundenen standort- und unternehmensübergreifenden Betrieb Region Nord-Ost, weil die Errichtung eines gemeinsamen Betriebes mehrerer Unternehmen nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine gemeinsame Betriebsstätte erfordert. Ohne Strukturtarifvertrag gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG kann ein solcher Betrieb bislang also nicht geschaffen werden.

Im Zuge des zunehmenden Bedeutungsverlustes gemeinsamer Betriebsstätten aufgrund der Digitalisierung und der rasanten Zunahme mobiler Arbeitsformen wird man jedoch überlegen müssen, ob das Kriterium einer gemeinsamen Betriebsstätte für die Existenz eines gemeinsamen Betriebes mehrerer Unternehmen weiterhin konstitutiv sein muss. Ich meine, dass ein gemeinsamer Betrieb mehrerer Unternehmen auch besteht, wenn diese Unternehmen sich aufgrund einer Führungsvereinbarung einer einheitlichen Leitung in personellen und sozialen Angelegenheiten unterstellen, über mehrere Standorte verfügen, dennoch aber ihre Betriebsmittel und Mitarbeiter zur Verfolgung eines arbeitstechnischen Zweckes standort- und unternehmensübergreifend geordnet und gezielt einsetzen.

Unsere Practice Group Restructuring berät Sie sehr gerne zu diesem Thema.

Thomas Wahlig

Thomas Wahlig ist spezialisiert auf Unternehmenskäufe und –restrukturierungen, Betriebsübergangsrecht, Tarifrecht, komplexe Gerichtsverfahren sowie auf die Einführung von Arbeitszeitmodellen und Vergütungssystemen.

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