Das Bundesarbeitsgericht entschied mit Urteil vom 16. Oktober 2019 (Az. 4 AZR 66/18), dass bei Leiharbeitnehmern nur dann vom sogenannten „Equal-Pay-Grundsatz“ abgewichen werden darf, wenn ein für die Arbeitnehmerüberlassung einschlägiges Tarifwerk auch vollständig – und nicht nur teilweise – auf das Arbeitsverhältnis angewendet wird (BAG Pressemitteilung Nr. 33/19).
Einordnung der
Entscheidung
Grundsätzlich sind Arbeitgeber verpflichtet,
Leiharbeitnehmern für die Zeit der Überlassung die Arbeitsbedingungen
einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren, wie sie auch für einen
vergleichbaren Arbeitnehmer im Betrieb des Entleihers gelten würden
(Gleichstellungsgrundsatz, § 8 Abs. 1 AÜG). Dies umfasst insbesondere die
finanzielle Gleichstellung (sog. Equal Pay) in Fragen des Gehalts sowie
sämtlicher Zulagen und Zuschläge, aber auch Sonderzahlungen wie beispielsweise
Weihnachtsgeld.
Vom Gleichstellungsgrundsatz kann durch Tarifvertrag
abgewichen werden (§ 8 Abs. 2 AÜG). Diese Abweichungsmöglichkeit war nach alter
Rechtlage unbegrenzt möglich, ist mittlerweile jedoch durch die
Gesetzesnovellierung im Jahr 2017 hinsichtlich des Arbeitsentgelts auf neun
bzw. 15 Monate beschränkt.
Damit durch Tarifvertrag wirksam vom
Gleichstellungsgrundsatz abgewichen werden kann, muss der Tarifvertrag kraft
beiderseitiger Tarifbindung oder individualvertraglicher Bezugnahme innerhalb
des Geltungsbereichs des Tarifvertrags vollständig auf das Arbeitsverhältnis
angewendet werden. Das bedeutet, dass dem Leiharbeitnehmer alle
tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen als Mindestmaß auch tatsächlich gewährt
werden müssen.
Die Entscheidung des
BAG
Das BAG hatte über die Klage eines überlassenen Arbeitnehmers
gegen seinen Arbeitgeber auf Zahlung der Differenzvergütung zu entscheiden.
Der Kläger war bei dem beklagten Zeitarbeitsunternehmen als
Kraftfahrer eingestellt. Der Arbeitsvertrag der Parteien enthielt eine
dynamische Bezugnahmeklausel auf Tarifverträge für Zeitarbeit sowie teilweise
Abweichungen von den tarifvertraglichen Regelungen – und zwar zugunsten, aber
auch zuungunsten des Klägers. Von April 2014 bis August 2015 war der Kläger als
Leiharbeitnehmer bei einem Kunden der Beklagten (Entleiher) eingesetzt und
erhielt eine Stundenvergütung in Höhe von 11,25 Euro brutto. Die beim Entleiher
tätigen Stammarbeitnehmer erhielten jedoch eine deutlich höhere
Stundenvergütung. Mit seiner Klage verlangte der Kläger für den Überlassungszeitraum
die Differenz zwischen der gezahlten Vergütung und dem Entgelt, das die
Stammarbeitnehmer beim Entleiher erhielten. Die Vorinstanzen wiesen die Klage
insoweit ab.
Die Revision des Klägers vor dem BAG hatte nunmehr Erfolg. Das
BAG entschied, dass der Kläger für den geltend gemachten Zeitraum einen
Anspruch auf Zahlung des Differenzbetrages hat. Eine zur Abweichung vom Gebot
der Gleichbehandlung berechtigte Vereinbarung hatten die Parteien nämlich nicht
getroffen. Diese setze insbesondere nach Systematik und Zweck der Bestimmungen
des AÜG eine vollständige Anwendung eines für die Arbeitnehmerüberlassung
einschlägigen Tarifwerks voraus. Der Arbeitsvertrag der Parteien enthielt
jedoch Abweichungen von den tariflichen Bestimmungen, welche nicht
ausschließlich zugunsten des Arbeitnehmers wirken. Weil der Senat mangels
hinreichender Feststellungen über die Höhe der Differenzvergütungsansprüche
nicht selbst entscheiden konnte, verwies er die Sache zurück an das LAG Bremen.
Fazit
Auch wenn die Entscheidung des BAG noch auf Basis der
Gesetzeslage vor April 2017 getroffen wurde, haben die Feststellungen des
Gerichts an Aktualität nicht verloren. Denn der Grundsatz, dass Abweichungen
vom Gleichbehandlungsgrundsatz eine Wirksame Inbezugnahme und Anwendung des
Tarifvertrags erfordern, gilt weiterhin.
Klargestellt hat das BAG nun, dass ein Tarifvertrag in
diesem Fall auch vollständig angewendet werden muss. Dies hatten die
Vorinstanzen noch anders gesehen und trotz „geringfügiger“ einzelvertraglicher
Abweichungen zuungunsten des Arbeitnehmers auf Gewichtung und Gepräge des
Vertragswerks abgestellt.
Für Arbeitgeber heißt das besondere Vorsicht beim Entwurf
von Leiharbeitsverträgen. Denn sobald einzelne Regelungen im Arbeitsvertrag vom
in Bezug genommenen Tarifvertrag zu Lasten des Arbeitnehmers abweichen, greift
der Gleichbehandlungsgrundsatz ab Beginn der Überlassung.
Arbeitgeber sollten bestehende und künftig abzuschließende Leiharbeitsverträge daher dringend auf etwaige Abweichungen von den tarifvertraglichen Mindestbedingungen überprüfen. Die Identifikation abweichender Arbeitsbedingungen erfordert dabei ein detailliertes Auseinandersetzen mit den tarifvertraglichen und arbeitsvertraglichen Regelungen. Der Teufel steckt dabei vielfach im Detail. Denn unterschiedliche Arbeitsbedingungen können sich beispielsweise auch in Regelungen zu Anrechnungen, Ausschlussfristen oder Abgeltungen verstecken. Besonders schwierig wird der Abgleich bei der Kollision unterschiedlicher tarifvertraglicher und betrieblicher Systeme wie beispielsweise im Rahmen von Gleitzeit.
Unsere Practice Group HR Compliance und Arbeitsschutz berät Sie sehr gerne zu diesem Thema.