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Christine Wahlig (Rechtsanwältin – Redaktionelle Leitung Blog) & Alice Tanke (Marketing Managerin)

Inside Workplace Law

Umkehr der Beweislast? Überstundenvergütung und Arbeitszeiterfassung in neuem Licht

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Ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 9. Dezember 2024 (Az.: 4 SLa 52/24) ist gerade in aller Munde, da es sich mit der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess auseinandersetzt und dabei die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung ins Zentrum rückt – ein Aspekt, der seit dem „Stechuhr-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofs (C-55/18) aus dem Jahr 2019 in Deutschland stark diskutiert wird (wir berichteten auf unserem Blog). Die Entscheidung wird als „richtungsweisend“ und „bemerkenswert“ oder sogar als „Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts“ beschrieben und sorgt insbesondere vor dem Hintergrund für Diskussionen, dass es auch sechs Jahre nach der EuGH- und fast drei Jahre nach der darauf aufsetzenden Entscheidung des BAG (1 ABR 22/21 – auch hierzu unser Blogbeitrag) keine neuen gesetzlichen Regelungen zur Arbeitszeiterfassung gibt

I.            Der zugrunde liegende Sachverhalt 

Die Klägerin war über Jahre hinweg als kaufmännische Angestellte bei der Beklagten, einer Autowerkstatt, beschäftigt. Der Arbeitsvertrag der Klägerin sah eine Teilzeitbeschäftigung mit 24 Wochenstunden vor. In der Praxis arbeitete sie jedoch – nach eigener Darstellung – regelmäßig deutlich mehr als vereinbart, teils bis zu 44 Stunden pro Woche. Sie behauptete, ihr hätten alle Tätigkeiten oblegen, die während der Öffnungszeiten von werktäglich 8.00 – 18.00 Uhr angefallen seien, wie u.a. die durchgehende Telefonannahme für die Werkstatt, Kundenbetreuung, Bestellung von Ersatzteilen und dergleichen. Die Klägerin behauptete, sie habe nach Vereinbarung mit dem Geschäftsführer auch samstags von 9.00 – 12.00 Uhr gearbeitet. Ihr seien daher die entsprechenden Überstunden, abzüglich der Pausen von einer Stunde täglich, zu vergüten.

Zur Untermauerung ihrer Forderung auf Vergütung der Mehrarbeit reichte die Klägerin Tabellen ein, in denen sie ihre Arbeitszeiten dokumentiert hatte und die, außer bei Urlaub und Krankheit, eine werktägliche Arbeitszeit von 8.00-18.00 Uhr abzüglich jeweils einer Stunde Pause auswiesen. Eine andere Zeiterfassung gab es bei der Beklagten nicht. 

Die Beklagte bestritt die geleistete Arbeitszeit und trug vor, etwaige zusätzliche Stunden seien jedenfalls weder angewiesen noch vom Geschäftsführer der Beklagten geduldet worden. Weitere Ausführungen machte die Beklagte nicht.

II.           Hintergrund: Die Stechuhr-Entscheidung des EuGH und die Umsetzung durch das BAG

Ausgangspunkt der Debatte um die Arbeitszeiterfassung war die so genannte Stechuhr-Entscheidung des EuGH (Az.: C-55/18). Der EuGH entschied, dass die EU-Mitgliedstaaten ihre Arbeitgeber zukünftig verpflichten müssten, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzurichten. Die konkrete Umsetzung und Art des Systems dürften die Mitgliedstaaten bestimmen. Ohne eine entsprechende Verpflichtung könnten die Arbeitnehmer die Überschreibung der Höchstarbeitszeit nicht beweisen. Damit sei das Recht der Arbeitnehmer auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit und Einhaltung der Ruhezeiten gefährdet. Die Reaktion in Deutschland war zunächst einhellig: Hier müsse der Gesetzgeber tätig werden, da eine explizite Pflicht zur vollumfänglichen Arbeitszeiterfassung gesetzlich nicht normiert sei.

Dem trat das BAG im September 2022 (Az.: 1 ABR 22/21) entgegen: Eine entsprechende Pflicht ergebe sich bereits aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG, wonach der Arbeitgeber verpflichtet ist, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Das beinhalte auch die Pflicht des Arbeitgebers, Beginn und Ende der Arbeitszeit zu erfassen.

III.          Die Entscheidung des LAG Niedersachsen

Das in erster Instanz mit der Sache befasste Arbeitsgericht Oldenburg wies die Klage mit Urteil vom 14. Dezember 2023 (6 Ca 120/23) ab. 

Das LAG Niedersachsen gab der Klage auf die Berufung der Klägerin hin überwiegend statt. Das Gericht stellte zunächst klar, dass es bei der Darlegungs- und Beweislast für Überstundenvergütung grundsätzlich bei der gefestigten Rechtsprechung bleibe: Arbeitnehmer müssen substantiiert darlegen,

  • an welchen Tagen 
  • sie zu welchen konkreten Zeiten gearbeitet haben,
  • inwiefern diese Zeiten über die vereinbarte Arbeitszeit hinausgingen und
  • dass der Arbeitgeber die Überstunden entweder angeordnet, gebilligt oder geduldet habe.

Das LAG sah den Vortrag der Klägerin allerdings als plausibel an. Entgegen der Annahme des Arbeitsgerichts behaupte die Klägerin anhand der vorgelegten Tabellen nicht, drei Jahre minutiös und ohne kleinste Abweichung ihre Arbeitsleistung genau um 8.00 Uhr aufgenommen und um 18.00 Uhr beendet zu haben. Die Klägerin räumte auch Verspätungen ein, die allerdings von der Beklagten nicht beanstandet worden seien. Die Auflistung über die geleisteten Arbeitszeiten seien Mindestangaben, die nicht ausschlössen, dass die Klägerin nicht auch darüber hinaus Arbeitsleistungen erbracht hat. Das LAG stützte die Plausibilität des klägerischen Vortrags insbesondere darauf, dass die Arbeitszeiten im Wesentlichen mit den Betriebsöffnungszeiten korrespondierten. 

Nach Auffassung des LAG ist die Beklagte dem Vorbringen der Klägerin nicht substantiiert entgegengetreten. Sie habe nicht vorgetragen, welche Arbeiten sie der Klägerin zugewiesen habe und insbesondere an welchen Tagen und zu welcher Uhrzeit die Klägerin diesen Weisungen nicht nachgekommen sei. Der Vortrag der Klägerin zu den Überstunden sei daher gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen. 

Das LAG stellte weiter fest, die Beklagte müsse sich jedenfalls im Rahmen ihrer substantiierten Erwiderungslast entgegenhalten lassen, dass sie tatsächlich keine Arbeitszeitaufzeichnungen gefertigt habe. Dies schlussfolgert das Gericht aus der vom BAG aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG hergeleiteten Verpflichtung des Arbeitgebers, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Wäre die Beklagte dieser Verpflichtung nachgekommen, wäre es ihr möglich gewesen auf das konkrete Vorbringen der Klägerin substantiiert zu erwidern. 

Auch eine Veranlassung der Überstunden durch die Beklagte erkannte das LAG an, da die Beklagte der Klägerin Tätigkeiten zugewiesen habe, die permanent während der gesamten Betriebsöffnungszeiten angefallen seien. Da der Geschäftsführer sein Büro in den Räumlichkeiten der Beklagten hatte und ihm daher die Anwesenheit der Klägerin bekannt war, habe jedenfalls eine konkludente Duldung der Überstunden vorgelegen.

IV.          Bewertung der Entscheidung

1.            Bisherige Rechtsprechung des BAG zur Beweislast im Prozess

Die Beweislastverteilung im Prozess um Überstundenvergütung war bisher klar verteilt: Der Arbeitnehmer muss die Arbeitsleistung sowie die Anordnung bzw. Duldung der Überstunden durch den Arbeitgeber darlegen und beweisen. 

Auch nach der angesprochenen Stechuhr-Entscheidung des EuGH hielt das BAG an dieser Einschätzung fest. Das BAG differenzierte in einer Entscheidung aus dem Jahr 2022 (Az.: 5 AZR 359/21) zwischen Arbeitszeit im Sinne des Arbeitsschutzrechts und im vergütungsrechtlichen Sinne: Aus der Stechuhr-Entscheidung des EuGH folge keine Beweislastumkehr. Auch wenn der Arbeitgeber kein Zeiterfassungssystem eingeführt habe, müsse weiterhin der Arbeitnehmer die Leistung der Überstunden darlegen und beweisen. Die Pflicht zur Zeiterfassung – und ein eventueller Verstoß dagegen – habe demnach nur Auswirkungen auf den Arbeitsschutz, nicht auf die Vergütung der Arbeitszeit. 

2.            Urteil des LAG Niedersachsen

Heftig diskutiert wird nun, ob in dem Urteil des LAG Niedersachen einer Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung zu erkennen ist. Das LAG Niedersachsen selbst scheint davon nicht auszugehen: Es stellt in seinem Urteil explizit klar, dass im Einklang mit der Rechtsprechung des BAG die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung keine Beweislastumkehr zu Folge habe und es folglich bei der bisherigen Beweislastverteilung bleibe. 

Diese Einschätzung teilen wir: Die Entscheidung des LAG Niedersachen steht bei genauer Betrachtung nicht im Widerspruch zur höchstrichterlichen Rechtsprechung. Es bleibt dabei, dass der Arbeitnehmer die anspruchsbegründenden Tatsachen darlegen muss, und der Arbeitgeber dem erst dann entgegentreten muss, wenn dem Arbeitnehmer dies gelungen ist. Dennoch sind nach der Entscheidung des LAG Niedersachsen die Anforderungen an den Arbeitgeber im Rahmen seiner substantiierten Erwiderungslast durch die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gestiegen. Der Arbeitgeber muss einem hinreichend substantiierten Vortrag des Arbeitnehmers zu Überstunden ebenfalls hinreichend substantiiert entgegentreten. Das LAG Niedersachen weist in diesem Zusammenhang – unter Zugrundelegung der oben beschriebenen, vom BAG angenommenen Pflicht zur Arbeitszeitaufzeichnung zu Recht – darauf hin, dass damit die Anforderungen an die Arbeitgeber nicht überspannt würden: Diese müssten ohnehin die Arbeitszeiten aufzeichnen, was ihnen einen entsprechenden Vortrag ohne weiteres ermöglichen würde. 

Die in der Literatur im Zusammenhang mit der Entscheidung des LAG Niedersachen diskutierte Umkehr der Darlegungs- und Beweislast ist damit gerade nicht verbunden. Der Entscheidung des LAG Niedersachsen lässt sich nicht entnehmen, dass der Arbeitnehmer im ersten Schritt Herausgabe der Arbeitszeitaufzeichnungen verlangen könnte, um damit seinen Vortrag im Überstundenprozess erst schlüssig machen zu können. Es bleibt dabei, dass der Arbeitnehmer im ersten Schritt zunächst die Überstunden glaubhaft darlegen und beweisen muss. Sofern diese Hürde im Prozess nicht überwunden wird, trifft den Arbeitgeber (bislang jedenfalls) auch nach Auffassung des LAG Niedersachen keine vertiefte Darlegungslast. Das LAG stellt sich damit im Ergebnis nicht in Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung. 

V.            Fazit für die Praxis

Im Ergebnis verursacht das Urteil des LAG Niedersachsen mehr Wirbel als notwendig und ändert nach unserer Auffassung nichts an der grundsätzlichen Beweislastverteilung im Überstundenprozess. In der Praxis wird es dem Arbeitgeber ohne Arbeitszeiterfassung jedoch kaum möglich sein, eigenen, detaillierten Aufzeichnungen der Arbeitnehmer über ihre (angeblich) erbrachte Arbeitsleistung entgegenzutreten und diese zu entkräftigen. 

Allerdings dürfte die Arbeitszeiterfassung nicht nur dem Arbeitgeber dabei helfen, Zahlungsansprüche abzuwehren, sondern es auch dem Arbeitnehmer erleichtern, Überstunden darzulegen, sofern er Zugriff auf die Daten über die Arbeitszeiterfassung hat. Die Dokumentation der Arbeitszeit schafft damit Klarheit auf beiden Seiten und kann solche Verfahren, wie es das LAG Niedersachsen zu entscheiden hatte, vermeiden. In der Praxis empfiehlt es sich schon allein vor diesem Hintergrund, als Arbeitgeber der Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung gewissenhaft nachzukommen.

Im Übrigen bleibt abzuwarten, ob die Entscheidung des LAG Niedersachsen andere Gerichte beeinflussen wird. Die Revision am BAG ist jedenfalls bereits anhängig.

Dr. Svenja Fries, LL.M. (KCL)

Dr. Svenja Fries ist spezialisiert auf betriebliche Mitbestimmung, Restrukturierungen, gerichtliche Auseinandersetzungen und Einigungsstellenverfahren.

Franziska Kuse

Franziska Kuse ist spezialisiert auf Kündigungsrechtsstreitigkeiten sowie betriebsverfassungsrechtliche Fragestellungen.

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