Der Segen einer Zugfahrt in Zeiten der Pandemie ist ein eigenes Abteil. Man kann sich in diesem Abteil nicht nur breit machen und jedenfalls ab und an ohne schlechtes Gewissen die Maske abnehmen und in Ruhe arbeiten. Man kann vor allem eine Erfahrung machen, die ich nur in der Kombination aus Zugfahrt, Alleinsein und einem großen Fenster kenne: Bin ich allein in meinem Abteil, blicke aus dem Fenster und sehe die Landschaften an mir vorbei rauschen, höre dabei das monotone Geräusch des Zuges und gebe mich meinen Gedanken, meiner inneren Welt hin, so erzeugt dies bei mir häufig eine besondere Stimulation und Kreativität. Die Gedanken und Ideen im Kopf brauchen offenbar Bewegung und Inspiration.
Kleist schrieb von der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden“, ich meine die „Entstehung und allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Fahren“. Es ist das besondere Zusammenspiel aus Einsamkeit, monotonem Fahrgeräusch, sich ständig verändernden Bildern und dem wohligen Gefühl eines überheizten Abteils, das diesen kreativen Prozess ermöglicht. Es kann natürlich keine Kreativität freisetzen und keine Gedanken befördern, die nicht schon irgendwie angelegt oder vorhanden waren. Es kann sie aber neu ordnen, verändern, ihnen andere Perspektiven abgewinnen und ihre Bedeutung relativieren. Weil man in diesen schönen Momenten einer Zugfahrt ein wenig aus dem eigenen Leben und Hamsterrad heraustritt, gewinnt man einen Blick von außen auf sich selbst und dieser Blick hilft – jedenfalls mir –, die Bedeutung und Wichtigkeit all dessen, was ich tue, zurecht zu rücken. Dies verschafft mir in guten Momenten die Gelassenheit, die es braucht, um das, was ich tue, nicht zu wichtig zu nehmen und bei allem Streben nach Höherem eine gewisse Lockerheit zu bewahren. Gleite ich in negative existenzialistische Gedanken über Sinn und Unsinn meines Tuns und Daseins ab, so wende ich den Blick einfach schnell zurück auf mein Laptop: 24 ungelesene E-Mails holen mich schlagartig zurück in die Wirklichkeit und vertreiben jeden weiteren negativen Gedanken. Ein Gutachten wartet auf seinen Review, ein Vertrag möchte überarbeitet werden und ein Mandant hat Fragen zu Home Office und mobiler Arbeit. Am Liebsten würde ich ihm schreiben, wie inspirierend Zugfahrten sein können, die für mich schönste und originärste Form mobiler Arbeit.
Allen Selbstoptimierern unter uns, die sich jetzt vornehmen, auf der nächsten Zugfahrt über Gestaltungsfragen zum Betriebsübergang aus Erwerbersicht, den Einsatz von Legal Tech im Bereich von Restrukturierungen, den Sinn des Lebens oder die Gewinnung neuer Mandanten durch feuilletonistische Blogbeiträge nachzudenken, sei gesagt, dass dies nach meiner Erfahrung nicht funktionieren wird. Der Prozess der Entstehung und allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Fahren funktioniert nur, wenn man ihm freien Lauf lässt, wenn man ziellos und ergebnisoffen an die Sache herangeht und wenn man jeden auch abseitigen und in die Irre führenden Gedanken zulässt. Manchmal wird es helfen, auch bei der Lösung juristischer Probleme oder anderen wichtigen Fragen des Lebens und manchmal eben nicht.