Die „Ampel“ hat kürzlich den von ihr erarbeiteten Koalitionsvertrag vorgestellt. Unter der Prämisse „Mehr Fortschritt wagen“ hat die zukünftige Bundesregierung ihre Marschroute für die nächsten vier Jahre festgelegt. Wie viel Fortschritt steckt tatsächlich im Koalitionsvertrag? Sieben Seiten sind dem Thema „Arbeit“ gewidmet. Ein Blick auf das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen durch die arbeitsrechtliche Brille…
12 Euro Mindestlohn
Erwartungsgemäß hat die SPD sich mit einem ihrer zentralen Wahlkampfversprechen durchgesetzt: Der gesetzliche Mindestlohn soll in einem Schritt von aktuell 9,60 Euro auf 12 Euro pro Arbeitsstunde erhöht werden. Diese Erhöhung geht über die von der Mindestlohnkommission beschlossene Erhöhung auf 10,45 Euro zum 1. Juli 2022 deutlich hinaus. Sollte diese Mindestlohnerhöhung bis zum Jahreswechsel nicht mehr umgesetzt werden, erhöht sich der Mindestlohn entsprechend der bereits beschlossenen Erhöhungen zum 1. Januar 2022 zunächst auf 9,82 Euro.
Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort
Besonders drängend für die Praxis ist der Reformbedarf im Hinblick auf die Themen Arbeitszeit und Arbeitsort. Nachdem die große Koalition die nötigen Änderungen nicht auf den Weg gebracht hat, finden sich die Themen Arbeitszeit und -ort nun auch wieder im Koalitionsvertrag der „Ampel“. Auf den ersten Blick scheint der geplante „Fortschritt“ jedoch eher verhalten.
Am Acht-Stunden-Arbeitstag, wie er sich auch jetzt schon im Arbeitszeitgesetz findet, will die neue Regierungskoalition grundsätzlich festhalten. Flexiblere Arbeitszeitmodelle sollen 2022 in tarifvertraglichem Rahmen erprobt werden. Eine Abweichung von den Höchstarbeitszeiten des Arbeitszeitgesetzes soll ebenfalls aufgrund von Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen aufgrund tariflicher Öffnungsklauseln möglich sein. Da der Anpassungsdruck in Bezug auf das starre Arbeitszeitgesetz vor allem aus nicht tarifierten Branchen kommt, dürfte diese vorsichtige Öffnung die Praxis nicht zufrieden stellen. Es könnte aber ein erster Schritt in die Richtung einer Flexibilisierung sein und mittelbar die Tarifautonomie stärken. Hier ist die Handschrift der SPD und des DGB deutlich erkennbar. Die zwischenzeitlich erwogene Öffnung durch Betriebsvereinbarungen ohne tarifliche Öffnungsklausel findet sich im Koalitionsvertrag nicht mehr.
Seit langem wartet die Praxis auf eine Umsetzung des EuGH-Urteil zur Erfassung von Arbeitszeiten vom 14. Mai 2019. Die bisherige Bundesregierung war sich uneins, ob eine Anpassung des Arbeitszeitgesetzes erforderlich sei und hatte von einer Regelung abgesehen. Der Koalitionsvertrag äußert sich ebenfalls zurückhaltend: Der Anpassungsbedarf im Arbeitszeitrecht soll geprüft werden. Flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrauensarbeitszeit) sollen auch unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung möglich bleiben. Das besagt alles und nichts. Wir gehen aber nach wie vor davon aus, dass es eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes und eine allgemeine Pflicht zur Erfassung von Arbeitszeiten geben wird.
Nachdem das Mobile-Arbeit-Gesetz in der letzten Legislaturperiode noch am Widerstand der CDU scheiterte, hat dieses nun offenbar Einzug in den Koalitionsvertrag erhalten. Die gesetzlichen Vorgaben zu mobiler Arbeit und Homeoffice sollen grundlegend überarbeitet werden. Hinsichtlich der Arbeit im Homeoffice ist ein Erörterungsanspruch des Arbeitnehmers vorgesehen. Arbeitgeber sollen dem Wunsch des Arbeitnehmers nur dann widersprechen können, „wenn betriebliche Belange entgegenstehen“. Sachfremde oder willkürliche Ablehnungen wollen die Koalitionspartner ausschließen. Mobiles Arbeiten soll dann auch problemlos europaweit möglich sein. Hier gilt es noch, den ein oder anderen steuer- und sozialversicherungsrechtlichen Stolperstein aus dem Weg zu räumen.
Erhöhung von Mini- und Midijob-Grenzen
Die sogenannten Mini- und Midijobs sollen, vor allem durch Erhöhung der Verdienstgrenzen, verbessert werden. Die Grenze für Midijobs, bei denen Mitarbeiter von vergünstigten Sozialversicherungsabgaben profitieren, wird auf 1.600 Euro im Monat erhöht. Mit Anhebung des Mindestlohns soll auch die Minijob-Grenze auf einen Monatsverdienst von 520 Euro angehoben werden.
Sachgrundlose Befristung bleibt
Im öffentlichen Dienst und beim Bund als Arbeitgeber sollen sachgrundlose Befristungen reduziert werden. Darüber hinaus sollen Kettenbefristungen vermieden werden, indem mit Sachgrund befristete Arbeitsverträge beim selben Arbeitgeber auf sechs Jahre begrenzt werden. Überschreitungen sollen nur in eng begrenzten Ausnahmefällen möglich sein. Der ursprüngliche Plan, die sachgrundlose Befristung gänzlich abzuschaffen, findet sich im Koalitionsvertrag nicht wieder. Daher bleibt die praktische Relevanz der im Befristungsrecht geplanten Änderungen wohl eher gering.
Vereinfachung und Stärkung der Mitbestimmung
Betriebsräte sollen künftig „selbstbestimmt entscheiden, ob sie analog oder digital arbeiten“. Damit knüpft die neue Bundesregierung an § 129 BetrVG an, der während der Pandemie, befristet bis Juni 2021, virtuelle Betriebsversammlungen und Betriebsratswahlen vorgesehen hatte. Online-Betriebsratswahlen will die Ampel-Koalition in einem Pilotprojekt erproben. Gewerkschaften sollen neben analogen auch digitale Zugangsrechte in die Betriebe erhalten.
Die Behinderung der Mitbestimmung – schon jetzt eine Straftat – soll künftig als Offizialdelikt eingestuft werden. Dann wäre diese Straftat grundsätzlich von Amts wegen, d.h. auch ohne Strafantrag, zu verfolgen.
Das (hohe) deutsche Mitbestimmungsniveau wollen die Parteien der Ampel-Koalition erhalten. Auch hier zeigt sich die Handschrift des DGB. Die missbräuchliche Umgehung von Mitbestimmungsrechten soll verhindert werden. Eine Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften durch den sogenannten Einfriereffekt soll nicht mehr möglich sein. Es soll verhindert werden, dass das bei der SE-Umwandlung vorhandene Mitbestimmungsniveau trotz späterer Überschreitung höherer Schwellenwerte unverändert bleibt. Zudem soll die nach dem Mitbestimmungsgesetz leichtere Konzernzurechnung auf das Drittelbeteiligungsgesetz übertragen werden. Dort findet gegenwärtig eine Zurechnung nur unter qualifizierten Voraussetzungen (Beherrschungsvertrag oder Eingliederung) statt.
Stärkung der Tarifautonomie
Die Tarifautonomie, die Tarifpartner und die Tarifbindung sollen gestärkt werden. Eine „Tarifflucht“ durch Betriebsausgliederung bei Identität des bisherigen Eigentümers soll durch Fortgeltung der Tarifverträge verhindert werden. Spannend wird die Frage, wie dies im Einklang mit der negativen Koalitionsfreiheit gesetzlich umgesetzt werden soll? Gemeint sein dürften Fallgestaltungen, bei denen der Betrieb einer tarifgebundenen Tochtergesellschaft von der Muttergesellschaft auf eine andere, nicht tarifgebundene, Tochtergesellschaft übertragen wird. Die gesetzliche Regelung zu den Rechten und Pflichten beim Betriebsübergang gemäß § 613a BGB soll dabei unangetastet bleiben. Dies kann unseres Erachtens nach nur bedeuten, dass der Gesetzgeber ungeachtet der Tarifbindung der aufnehmenden Gesellschaft eine normative Fortgeltung der Tarifverträge anordnen oder von einem Übergang der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband auf das erwerbende Unternehmen ausgehen wird. Beides dürfte rechtlich im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit problematisch sein, die nicht nur Verfassungsrang genießt, sondern auch ein europäisches Grundrecht darstellt. Wir sehen zudem nicht die praktische Notwendigkeit einer solchen Regelung, da Tariffluchten durch Betriebsausgliederung im Konzern nach unserer Wahrnehmung kein missbräuchliches Phänomen darstellen, das man unbedingt bekämpfen müsste. Hinzu kommt, dass solche Tariffluchten in der Regel aufgrund der Rechtsprechung des BAG zu der Auslegung von arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln auf Tarifverträge ohnehin nicht funktionieren. Diese Rechtsprechung führt in vielen Fällen dazu, dass der neue Arbeitgeber auf der arbeitsvertraglichen Ebene dynamisch an die Tarifverträge des bisherigen Arbeitgebers gebunden bleibt.
Und sonst so?
Neben all diesen Themen sieht der Koalitionsvertrag eine Stärkung von Ausbildung und Weiterbildung vor. Die Rede ist unter anderem von einer „Ausbildungsgarantie“ sowie „Bildungsteilzeit“. Daneben sollen Statusfeststellungsverfahren verbessert und beschleunigt werden. Änderungsbedarf hinsichtlich des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes soll geprüft werden und auch der Arbeits- und Gesundheitsschutz sollen angepasst werden.
Fazit
Wenig überraschend wird das Arbeitsrecht unter Führung der SPD eher arbeitnehmerfreundlicher, insbesondere die Rolle der Gewerkschaften wird gestärkt. Der Fortschritt im Sinne einer Anpassung des Arbeitsrechts an geänderte Formen der Arbeit bleibt weitgehend unkonkret. Zahlreiche Themen sind so generisch behandelt, dass abzuwarten bleibt, ob, wann und wie es zu arbeitsrechtlichen Veränderungen kommen wird. Vielleicht wartet der ein oder andere von der bisher mitregierenden CDU/CSU abgelehnte Entwurf in der Schreibtischschublade des alten und wohl auch neuen Bundesarbeitsministers nur darauf, schon bald das Gesetzgebungsverfahren zu durchlaufen, etwa das Mobile-Arbeit-Gesetz, das Hinweisgeberschutzgesetz und der im Auftrag des BMAS erstellte Entwurf zur Änderung des § 16 ArbZG.