Werden in größerem Umfang Personalabbaumaßnahmen geplant, hat der Arbeitgeber die komplexen Anforderungen im Rahmen des Konsultations- und Massenentlassungsanzeigeverfahrens nach § 17 KSchG zu beachten.
Es stellt sich dabei die Frage, ob jeder Verstoß gegen die Konsultationspflichten des Betriebsrats oder Mängel bei der Erstattung der Massenentlassungsanzeige zwingend zur Unwirksamkeit der später ausgesprochenen Kündigungen führen müssen?
Bislang nahm das BAG in gefestigter Rechtsprechung an, dass Fehler im Konsultationsverfahren und bei der Anzeige von Massenentlassungen grundsätzlich (bis auf vereinzelte Ausnahmen) zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen der Mitarbeitenden führen. Eine entsprechende gesetzliche Regelung der Unwirksamkeitsfolge fehlt jedoch. Das BAG begründete die Unwirksamkeitsrechtsfolge unter Heranziehung des unionsrechtlichen „effet utile“- Grundsatzes mit dem Arbeitnehmerschutz (BAG, Urteil v. 22. November 2012 – 2 AZR 371/11). Die Kündigung sei nach § 134 BGB unwirksam, wenn das Massenentlassungsverfahren nicht, nicht rechtzeitig oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, bevor die Kündigung dem Mitarbeitenden zugegangen ist. Beteiligt der Arbeitgeber den Betriebsrat nicht, nicht rechtzeitig oder fehlerhaft, führe dies ebenso grundsätzlich zur Unwirksamkeit der Kündigung.
Wird die gestrige Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C‑134/22 hieran etwas ändern und damit die erheblichen Risiken für Arbeitgeber bei Massenentlassungen reduzieren?
Hintergrund der EuGH-Entscheidung
Das BAG (Beschluss v. 27. Januar 2022 – 6 AZR 155/21) war im Januar 2022 mit einer Kündigungsschutzklage im Rahmen einer Betriebsschließung befasst. In diesem Zusammenhang wurde der Betriebsrat nach den Vorgaben des § 17 Abs. 2 KSchG konsultiert. Entgegen der gesetzlichen Regelung des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG, der Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL umsetzt, wurde der Agentur für Arbeit keine Abschrift des an den Betriebsrat gerichteten Konsultationsschreibens übermittelt. Eine Massenentlassungsanzeige wurde erstattet. Das Arbeitsverhältnis des Klägers wurde anschließend, genau wie die aller anderen Arbeitnehmer, gekündigt. Im Rahmen seiner Kündigungsschutzklage berief sich der Kläger auf die Unwirksamkeit seiner Kündigung wegen des Verstoßes gegen die Unterrichtungspflicht der Agentur für Arbeit gemäß § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG.
Das in der Revisionsinstanz mit der Rechtssache befasste BAG sah in der unterbliebenen Übermittlung des Konsultationsschreibens einen Verstoß gegen das deutsche Gesetz zur Umsetzung der Unionsrichtlinie in nationales Recht. Da weder das Kündigungsschutzgesetz noch die MERL eine Rechtsfolge für Verstöße gegen die Vorgaben des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG vorsehen, nahm das BAG an, dass die Unwirksamkeitsfolge der Kündigung nach § 134 BGB nur dann eintreten kann, wenn die Regelung des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG arbeitnehmerschützend sei. Dazu bedürfe es der Auslegung des Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL. Das BAG legte daher dem Gerichtshof die Frage nach dem Zwecks des Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL zur Vorabentscheidung vor.
Schlussantrag des Generalanwalts beim EuGH
Der Generalanwalt beim EuGH, Herr Priit Pikamäe, führte in seinem Schlussantrag vom 30. März 2023 aus, dass die Vorschriften der MERL die Mitgliedstaaten gerade nicht dazu verpflichten, einen Verstoß gegen eine der in dieser Richtlinie vorgesehenen Pflichten mit der Nichtigkeit der Kündigung zu sanktionieren.
Darüber hinaus verneinte der Generalanwalt nicht nur den arbeitnehmerschützenden Zweck von Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL, sondern stellte generell infrage, dass der in der Massenentlassungsrichtlinie vorgesehene Massenentlassungsschutz individualschützend sei. Die Weitergabe des an die Arbeitnehmervertreter gerichteten Konsultationsschreibens an die zuständige Behörde verfolge nach seiner Auffassung ein ähnliches Ziel wie die generelle Pflicht zur Anzeige der beabsichtigten Entlassungen (Art. 3 Abs. 1 MERL/§ 17 Abs. 1 KSchG). Sämtliche Verpflichtungen der Arbeitgeber im Rahmen des Konsultations- und Massenentlassungsanzeigeverfahrens bestünden ausschließlich gegenüber den zuständigen Behörden (Arbeitsagenturen) und Arbeitnehmervertretungen und würden keinen Individualschutz zugunsten von Mitarbeitenden bezwecken.
Diese Auffassung entzieht der grundsätzlichen Unwirksamkeitsrechtsfolge bei Fehlern im Konsultations- und Massenentlassungsanzeigeverfahren die Grundlage. Für die Nichtigkeitsfolge des § 134 BGB fehlt es bei diesem Verständnis an einem individualschützenden Verbotsgesetz.
In Anbetracht des Schlussantrags des Generalanwalts beim EuGH stellte auch das BAG erstmals seine Rechtsprechung zur Unwirksamkeitsfolge in Frage. Im Mai 2023 setzt der Sechste Senat des BAG die Entscheidung in einem Rechtsstreit über die Rechtsfolgen einer fehlenden Massenentlassungsanzeige wegen Verkennung der Betriebsgröße bis zur Klärung der vorliegenden Rechtssache (C‑134/22) durch den EuGH aus.
Eine wegweisende Entscheidung des EuGH zum Konsultations- und Massenentlassungsanzeigeverfahren war daher zu erwarten.
Wie entschied der EuGH?
In dem gestrigen Urteil verneint der Gerichtshof den Individualschutz des Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL: Die Verpflichtung des Arbeitgebers, der Massenentlassungen beabsichtigt, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest bestimmter Bestandteile der schriftlichen Mitteilung, die er den Arbeitnehmervertretern für Konsultationszwecke zugeleitet hat, zu übermitteln, habe nicht den Zweck, den betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL diene lediglich Informations- und Vorbereitungszwecken der staatlichen Stellen.
Dies begründet der EuGH damit, dass die Informationsübermittlung der zuständigen Behörde ermögliche, sich einen Überblick über die Informationen, insbesondere im Zusammenhang mit den in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Aufgaben, zu verschaffen. Die Behörde sei im Konsultationsverfahren der Arbeitnehmervertreter lediglich Adressatin der Abschrift und habe in diesem Verfahren keine aktive Rolle. Die Übermittlung der Informationen an die Behörde setze weder eine vom Arbeitgeber einzuhaltende Frist in Gang noch schaffe sie eine Verpflichtung für die Behörde.
Auswirkungen für die Praxis
Es ist zu erwarten, dass das BAG aufgrund der gestrigen Entscheidung des EuGH § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG den Individualschutz absprechen wird. Das wird zur Folge haben, dass ein Verstoß gegen die Pflicht zur Übermittlung der schriftlichen Konsultation des Betriebsrates an die Agentur für Arbeit nicht mehr zur Unwirksamkeit der Kündigungen der auf Grundlage der Massenentlassungsanzeige entlassenen Mitarbeitenden führt. Da sich die Ausführungen in der Entscheidung des EuGH aber ausschließlich auf Sinn und Zweck des Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL beschränken und gerade nicht allgemein auf das Konsultations- oder Massenentlassungsanzeigeverfahren bezogen sind, muss gegenwärtig weiterhin davon ausgegangen werden, dass alle anderen Verstöße im Rahmen des Konsultationsverfahrens und bei Erstattung der Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit der danach ausgesprochenen Kündigungen führen. Jedenfalls ist es zu früh für eine Entwarnung.
Es ist jedoch davon auszugehen, dass das BAG die arbeitnehmerschützende Wirkung des Konsultations- und Massenentlassungsanzeigeverfahrens insgesamt vom EuGH klären lassen wird. Es ist dabei zu wünschen, dass der EuGH insgesamt der überzeugenden Argumentation des Generalanwalts folgt. Es hat noch nie eingeleuchtet, dass falsche Berufsgruppen oder sonstige unrichtige Angaben in der Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit von Kündigungen führen sollen. Die Massenentlassungsanzeige soll die Agentur auf eine größere Zahl von Arbeitslosmeldungen vorbereiten und ihr die Chance zur Vorbereitung ihrer Vermittlungsaktivitäten geben. Unrichtige Angaben des Arbeitgebers können möglicherweise diese Vorbereitungen beeinträchtigen. Führen sie zur Unwirksamkeit der Kündigungen, so war jede Vorbereitung der Agentur überflüssig, weil das Arbeitsverhältnis fortbesteht. Dies ergibt keinen Sinn. Zwar kann dem Konsultations- und Massenentlassungsanzeigeverfahren insgesamt eine arbeitnehmerschützende Wirkung nicht abgesprochen werden. Die Sanktion einer Unwirksamkeit der im Rahmen der Massenentlassung ausgesprochenen Kündigung ist jedoch unverhältnismäßig. Bei unterbliebener Konsultation sollte vielmehr § 113 BetrVG entsprechend angewendet und dem betroffenen Mitarbeitenden ein Nachteilsausgleich zuerkannt werden. Bei unterbliebener oder fehlerhafter Massenentlassungsanzeige dürfte dem Mitarbeitenden ein Schadensersatzanspruch zustehen, wenn die Entlassung bei ordnungsgemäßer Anzeige erst zu einem späteren Zeitpunkt wirksam geworden (§ 18 KschG) oder der Mitarbeitende früher in ein neues Beschäftigungsverhältnis vermittelt worden wäre. Der Grundsatz des „effet utile“ kann hier Beweiserleichterungen oder eine Beweislastumkehr zugunsten des Mitarbeitenden gebieten, wenn ihm passende Jobangebote der Agentur für Arbeit früher hätten zur Verfügung gestellt werden können.
Aber Vorsicht: Diese Sicht entspricht nicht der gegenwärtigen Rechtslage. Aktuell ist weiterhin davon auszugehen, dass Fehler im Konsultations- und Massenentlassungsanzeigeverfahren zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen. Lediglich für die unterbliebene Übermittlung des Konsultationsschreibens gegenüber dem Betriebsrat an die Agentur für Arbeit ist dies jetzt vom EuGH anders entschieden worden.