Mit Urteil vom 19. September 2024 (8 AZR 21/24) hatte das BAG erneut darüber zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen dem Entschädigungsverlangen eines abgelehnten Bewerbers nach § 15 Abs. 2 AGG wegen vermeintlicher Diskriminierung im Bewerbungsverfahren der Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegensteht.
Die Entscheidung des BAG war mit Spannung erwartet worden, da die Vorinstanz, das LAG Hamm, den Rechtsmissbrauch mit einem „Geschäftsmodell in zweiter Generation“ begründet hatte (wir berichteten auf unserem Blog: AGG-Hopping – Das Geschäftsmodell 2.0 – Kristina Schilder und Clara Simon).
Das Verfahren vor dem BAG war auch insoweit bemerkenswert, als sich der – als sog. „AGG-Hopper“ gerichtsbekannte – Kläger in der Revisionsinstanz vor dem BAG von einem Rechtsanwalt aus Süddeutschland vertreten ließ, der es seinerseits als sog. „AGG-Hopper“ zu deutschlandweiter Bekanntheit gebracht hat.
Verbotene Ungleichbehandlung
Nach § 7 Abs. 1 AGG dürfen Beschäftigte bzw. Bewerberinnen und Bewerber nicht wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, das heißt nicht wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität benachteiligt werden.
Wird eine Bewerberin oder ein Bewerber wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes in einem Bewerbungsprozess nicht berücksichtigt oder abgelehnt, ist das die Stelle ausschreibende Unternehmen verpflichtet, ihr oder ihm den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen und eine angemessene Entschädigung in Geld zu zahlen (vgl. § 15 AGG).
Schon die Ausschreibung einer Stelle darf nicht gegen § 7 Abs. 1 AGG verstoßen (§ 11 AGG). Ist eine Stellenanzeige nicht benachteiligungsfrei formuliert – weil etwa ausdrücklich eine Frau gesucht wird -, begründet dies eine gesetzliche Vermutung für eine Diskriminierung, im Beispielsfall der nicht weiblichen Bewerber. Diese Vermutung kann bzw. muss das ausschreibende Unternehmen widerlegen, indem es nachweist, dass das Bewerbungsverfahren diskriminierungsfrei durchgeführt worden ist (vgl. § 22 AGG).
Die Regelungen des AGG zum Schutz von Bewerberinnen und Bewerbern vor Diskriminierung machen sich sog. „AGG-Hopper“ zunutze. Sie bewerben sich systematisch auf AGG-widrig formulierte Stellenanzeigen mit dem alleinigen Ziel, abgelehnt zu werden und sodann Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche gegen das die Stelle ausschreibende Unternehmen geltend zu machen.
Sachverhalt
In dem aktuell vom BAG entschiedenen Fall stritten sich die Parteien darüber, ob die Beklagte dem Kläger nach einer erfolglosen Bewerbung auf eine Stellenanzeige für eine „Bürokauffrau/Sekretärin“ eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung wegen des Geschlechts zu zahlen hat.
Der etwa 30-jährige Kläger war ausgebildeter Industriekaufmann und absolvierte ein Fernstudium zum „Wirtschaftsjuristen“. Zuletzt war er arbeitslos. Der Kläger hatte sich in der Vergangenheit laufend und deutschlandweit auf nicht geschlechtsneutral ausgeschriebene Stellen beworben, in denen nach einer „Sekretärin“ gesucht worden war.
Dabei beschränkte er sich zunächst auf Stellenausschreibungen auf der Internetplattform „ebay Kleinanzeigen“. Über die Chat-Funktion des Portals meldete er sich bei den ausschreibenden Unternehmen mit folgenden, inhaltlich übereinstimmenden, Formulierungen: „Suchen Sie nur ausschließlich eine Sekretärin, also eine Frau? In Ihrer Stellenanzeige haben Sie dies so angegeben. Ich habe eine kaufmännische abgeschlossene Ausbildung als Industriekaufmann.“ Die Grußformel endete mit „Herr […]“. Weitere Unterlagen, wie etwa einen Lebenslauf, übermittelte der Kläger nicht.
Im Nachgang zu den ihm durchweg erteilten Absagen führte der Kläger Entschädigungsprozesse aufgrund einer angeblichen Benachteiligung wegen des Geschlechts.
Während er beispielsweise vor dem LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 21. Juni 2022 – 2 Sa 21/22) obsiegte, musste er auch Niederlagen hinnehmen. So wies das ArbG Berlin (Urteil vom 23. Juni 2022 – 42 Ca 10434/21) eine Entschädigungsklage des Klägers wegen rechtsmissbräuchlichen Vorgehens ab. Zur Begründung führte es aus, der Kammer seien binnen 15 Monaten elf Klagen aufgrund einer behaupteten Benachteiligung wegen des Geschlechts durch den Kläger allein vor dem ArbG Berlin bekannt. Die hiergegen eingelegte Berufung des Klägers wies das LAG Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 20. Januar 2023 (3 Sa 898/22) zurück.
Auch das ArbG Hagen (Urteil vom 6. April 2022 – 2 Ca 1421/21) wies eine Entschädigungsklage des Klägers wegen Rechtsmissbrauchs ab. Die hiergegen eingelegte Berufung des Klägers wies das LAG Hamm mit Urteil vom 23. August 2023 (9 Sa 538/22) zurück. Das ArbG Gelsenkirchen (Urteil vom 3. August 2022 – 2 Ca 547/22) gab einer Entschädigungsklage des Klägers teilweise statt. Auf die Berufung der Arbeitgeberin hin wies das LAG Hamm die Klage mit Urteil vom 23. März 2023 (18 Sa 888/22) wegen Rechtsmissbrauchs ab.
Die einen Rechtsmissbrauch annehmenden Gerichte wiesen den Kläger darauf hin, dass er sowohl mit dem niedrigen Niveau seiner Bewerbungen als auch mit den demonstrativen Hinweisen auf sein männliches Geschlecht und der Nachfrage, ob ausschließlich eine Frau gesucht werde, eine Absage geradezu provoziert habe. Auch die Beschränkung seiner Bewerbungen auf Stellenanzeigen, die auf dem Portal „ebay Kleinanzeigen“ ausgeschrieben waren, sowie die ausschließliche Verwendung der Chat-Funktion wurden im Zusammenhang mit den übrigen Umständen als Indiz für einen Rechtsmissbrauch gewertet.
Diese gerichtlichen Hinweise nahm sich der Kläger allem Anschein nach zu Herzen. Er erweiterte seinen Bewerbungsradius auf das Jobportal „Indeed“ und hinterlegte dort einen relativ simpel gehaltenen Lebenslauf.
Im Januar 2023 bewarb sich der Kläger bei der Beklagten über die Chat-Funktion von „Indeed“ auf eine von der Beklagten ausgeschriebene Stelle als „Bürokauffrau/Sekretärin“. Im Anschluss daran übersandte der Kläger der Beklagten auf dem Postweg ein Anschreiben, in dem er auf die Frage verzichtete, ob ausschließlich eine Frau gesucht werde. Das Anschreiben unterzeichnete der Kläger zudem mit seinem Vor- und Zunamen. Auf seine Bewerbung erhielt er von der Beklagten keine Rückmeldung. Die Stellenanzeige wurde auf der Website gelöscht und die Stelle mit einer Frau besetzt.
Daraufhin erhob der Kläger Klage auf Entschädigung wegen einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vor dem ArbG Dortmund. Sowohl das ArbG Dortmund (Urteil vom 07. Juli 2023 – 10 Ca 640/23) als auch das LAG Hamm in zweiter Instanz (Urteil vom 05. Dezember 2023 – 6 Sa 896/23) hielten die Klage wegen Rechtsmissbrauchs für unbegründet. Gegen das Urteil des LAG Hamm legte der Kläger Revision zum BAG ein. Mit Urteil vom 19. September 2024 (8 AZR 21/24) wies das BAG die Revision des Klägers zurück.
Entscheidungsgründe
Nach Auffassung des BAG war das LAG Hamm rechtsfehlerfrei zu der Überzeugung gelangt, dass dem Entschädigungsverlangen des Klägers der durchgreifende Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegenstand. Die diesbezügliche Würdigung des LAG Hamm halte einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
Für den Rechtsmissbrauch hatten nach Auffassung des LAG Hamm in objektiver Hinsicht mehrere Indizien gesprochen:
Die mangelnde Umzugswilligkeit des Klägers, verbunden mit dem fehlenden Vorbringen, wie er sich ein tägliches Pendeln bei einer räumliche Entfernung von ca. 170 km zwischen seinem Wohnort und der in Dortmund angesiedelten Stelle vorstellt, habe dabei einen Anhaltspunkt geliefert. Ein weiteres Anzeichen habe sich daraus ergeben, dass die Bewerbung nach ihrer formalen sowie inhaltlichen Gesamterscheinung insbesondere mangels hinreichenden Bezuges zur ausgeschriebenen Stelle darauf angelegt gewesen sei, eine Absage zu provozieren. Zudem sei nicht ersichtlich gewesen, dass der Kläger sein im Zeitpunkt der Bewerbung betriebenes Vollzeitstudium zum Wirtschaftsjuristen zugunsten der Aufnahme einer Tätigkeit auf der von der Beklagten ausgeschriebenen Vollzeitstelle habe aufgeben wollen.
Den entscheidenden objektiven Anhaltspunkt für einen Rechtsmissbrauch hat das LAG Hamm jedoch darin gesehen, dass sich die Bewerbung bei der Beklagten und die an die Nichtberücksichtigung der Bewerbung anschließende Entschädigungsklage als Teil eines systematischen und zielgerichteten Vorgehens des Klägers im Rahmen der Entwicklung eines „Geschäftsmodells in zweiter Generation“ dargestellt hat. Dieses sei darauf ausgerichtet gewesen, mit der Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen nach § 15 Abs. 2 AGG – zuletzt neben dem Bezug von Bürgergeld – zusätzliche Einnahmen zu generieren.
Das für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs erforderliche subjektive Element hat nach Auffassung des LAG Hamm ebenfalls vorgelegen. Es hätten hinreichende Anhaltspunkte bestanden, dass der Kläger in der Absicht gehandelt habe, sich einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen, indem er die Voraussetzungen für einen formalen Status eines Bewerbers im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG willkürlich herbeigeführt habe. Die Möglichkeit, dass das Verhalten des Klägers durch ein tatsächliches Einstellungsinteresse motiviert gewesen sein könnte, sei unter den gegebenen Umständen ausgeschlossen gewesen.
Die Revision des Klägers, so das BAG, habe demgegenüber weder einen revisiblen materiell-rechtlichen Rechtsfehler noch einen Verfahrensfehler aufgezeigt.
Zwar kann nach der ständigen Rechtsprechung des BAG auf einen Rechtsmissbrauch nicht bereits daraus geschlossen werden, dass eine Person eine Vielzahl erfolgloser Bewerbungen versandt und mehrere Entschädigungsprozesse geführt hat. Ein solches Verhalten lässt sich ebenso damit erklären, dass ein ernsthaftes Interesse an dem Erhalt der jeweiligen Stelle bestanden hat und dass der Bewerber, weil er sich diskriminiert sah, mit der Entschädigungsklage zulässigerweise seine Rechte nach dem AGG wahrnimmt.
An die Annahme des durchgreifenden Rechtsmissbrauchseinwands sind hohe Anforderungen zu stellen. Es müssen im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, die ausnahmsweise den Schluss auf ein rechtsmissbräuchliches Verhalten rechtfertigen. Dies kann im Zusammenhang mit einer Vielzahl anderweitiger Bewerbungen und anschließender Entschädigungsklagen nur angenommen werden, wenn sich ein systematisches und zielgerichtetes Vorgehen des Bewerbers feststellen lässt, das auf der Erwägung beruht, bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise werde letztlich ein auskömmlicher Gewinn verbleiben.
Diesen strengen Vorgaben, so das BAG, werde die Würdigung des LAG Hamm gerecht.
Das LAG Hamm hat seine Annahme zum Vorliegen eines Geschäftsmodells im vorstehend beschriebenen Sinne darauf gestützt, dass sich der Kläger laufend und deutschlandweit auf offensichtlich nicht geschlechtsneutral ausgeschriebene Stellen als „Sekretärin“ beworben und nach provozierter Absage seiner Bewerbung versucht hat, Entschädigungsansprüche (gerichtlich) durchzusetzen. Im Laufe der Zeit hat der Kläger sein Verhalten den Erkenntnissen aus Entschädigungsprozessen angepasst und die von den jeweiligen Arbeitsgerichten gerügten bzw. deren Ansicht nach auf Rechtsmissbrauch hindeutenden formellen „Fehler“ im Bewerbungsverfahren abgestellt („in zweiter Generation“).
Bei all dem sei es dem Kläger aber erkennbar nur darum gegangen, mögliche formelle Indizien für einen Rechtsmissbrauch zu eliminieren und nicht um eine Verbesserung seiner Bewerbungschancen. Bezeichnenderweise sei die „Optimierung“ der Bewerbungen dementsprechend nicht – wie es von einem Bewerber mit Interesse am Erhalt der Stelle zu erwarten gewesen wäre – im Hinblick auf die inhaltliche Überzeugungskraft der Bewerbungen bzw. der beigefügten Unterlagen erfolgt. Vielmehr habe der Kläger die Bewerbungen auf bewusst niedrigem Niveau gehalten.
Nach Auffassung des BAG hat das LAG Hamm damit im Verhalten des Klägers besondere Umstände festgestellt, die ein standardisiertes und methodisches Vorgehen des Klägers im Rahmen einer Vielzahl anderer Bewerbungsverfahren und nachfolgend geführter Entschädigungsprozesse belegen. Die daraus gezogene Schlussfolgerung, der Kläger habe sich bei der Beklagten allein in der Erwartung beworben, eine Absage zu erhalten und durch seine nachfolgende Entschädigungsforderung neben dem Bezug von Bürgergeld einen auskömmlichen „Gewinn“ zu erzielen, überschreite den Beurteilungsspielraum der Tatsacheninstanz nicht.
Fazit
Die Entscheidung des BAG zum „Geschäftsmodell in zweiter Generation“ ist zu begrüßen. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass sog. „AGG-Hopper“ zunehmend professioneller agieren, indem sie sich bei ihrem Vorgehen an bereits ergangenen gerichtlichen Entscheidungen orientieren und die formellen „Fehler“ in ihren Bewerbungen, die nach Auffassung der Gerichte auf einen Rechtsmissbrauch hindeuteten, abstellen. Das BAG hat nun klargestellt, dass auch ein solches „Geschäftsmodell 2.0“ ein (weiterer) objektiver Anhaltspunkt für einen Rechtsmissbrauch sein kann.
Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass der Nachweis eines Rechtsmissbrauchs für betroffene Unternehmen im Einzelfall schwierig sein kann, da klagende Bewerberinnen und Bewerber nicht immer gerichtsbekannt sind. Arbeitgebenden ist daher weiterhin zu raten, Stellenanzeigen sorgfältig zu formulieren und den gesamten Bewerbungsprozess diskriminierungsfrei durchzuführen und dies insbesondere auch zu dokumentieren.