I. Einleitung
Zielvorgaben und -vereinbarungen spielen bei der variablen Vergütung im Arbeitsrecht schon lange eine wichtige Rolle. Dabei müssen die Ziele „SMART“ sein. Hinter dieser Abkürzung verbirgt sich, dass Ziele präzise formuliert werden (specific), messbar (measurable) und erreichbar (achievable) sowie möglich und realisierbar sein müssen (reasonable) und terminiert (time-bound) werden. Aus rechtlicher Sicht ist ferner zu unterscheiden, ob Ziele einseitig vom Arbeitgeber vorgegeben werden (= Zielvorgaben, d.h. einseitige Festlegung bestimmter Ziele, Leistungsstandards oder Erwartungen durch den Arbeitgeber für einen Arbeitnehmer) oder im Rahmen einer echten Zielvereinbarung (= vertragliche Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, in der konkrete Ziele und Erwartungen hinsichtlich der Leistung, des Verhaltens oder der Ergebnisse festgelegt werden, die der Arbeitnehmer innerhalb eines bestimmten Zeitraums erreichen oder erfüllen soll) zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zustande kommen.
II. Hintergrund und rechtliche Rahmenbedingungen
Aber nicht nur der Streit um „smarte“ Grundsätze ist ein Dauerbrenner in der Beratung von Unternehmen und Führungskräften, sondern auch die verspätete Festlegung bzw. Vereinbarung oder deren gänzliches Fehlen führt regelmäßig, insbesondere in Trennungsfällen, zu Streitigkeiten.
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) steht dem Arbeitnehmer ein Schadensersatzanspruch gem. §§ 280 Abs. 1, 3, 283 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zu, wenn der Arbeitgeber schuldhaft die Zielvereinbarung unterlassen oder verhindert hat. Da der Arbeitnehmer bei der Zielvereinbarung mitwirken kann, besteht laut dem Bundesarbeitsgericht die Möglichkeit, ein Mitverschulden des Arbeitnehmers nach § 254 Abs. 1 BGB in Abzug zu bringen. Das BAG hat jedoch bislang explizit offengelassen, ob diese Grundsätze auf die einseitige Zielvorgabe übertragen werden können. Diese Lücke schließt nun das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln.
III. Der Fall vor dem LAG Köln
In einem aktuellen Urteil hat das LAG Köln (Urteil vom 06.02.2024 – 4 Sa 390/23) die Rechtsprechung im Bereich der Zielvorgabe fortentwickelt.
Im zugrundeliegenden Fall stritten der Kläger und seine ehemalige Arbeitgeberin über Schadensersatz aufgrund einer verspäteten Festlegung der Zielvorgabe für das Jahr 2019. Der Kläger war als Führungskraft bei der Beklagten beschäftigt. Sein Arbeitsvertrag beinhaltete eine variable Vergütung. Gemäß einer bei der Beklagten geltenden Betriebsvereinbarung erhielten Führungskräfte bis zum 01.03. des Kalenderjahres Zielvorgaben, die sich aus Unternehmenszielen und individuellen Zielen zusammensetzten. Am 26.09.2019 informierte der Geschäftsführer der Beklagten die Führungskräfte per E-Mail über die finalen Rahmenbedingungen des MBO (Management by Objectives) für 2019. Unstreitig erfolgte keine Festlegung individueller Ziele. Eine mündliche Festsetzung der Unternehmensziele erfolgte im Heads Meeting am 15.10.2019. Der Kläger kündigte sein Arbeitsverhältnis zum 30.11.2019, woraufhin die beklagte Arbeitgeberin dem Kläger einen anteiligen Bonus auszahlte. Mit seiner Klage forderte der Kläger die ausstehende Summe ein, die zum Erreichen der 100% ausstand.
IV. Gerichtliche Entscheidungen und rechtliche Bewertungen
Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Es argumentierte, dass die Festlegung der Zielvorgaben für das Jahr 2019 im Herbst 2019 und damit noch innerhalb der Zielperiode erfolgt und somit nicht unmöglich geworden sei. Der Kläger legte gegen dieses Urteil Berufung ein.
Das LAG Köln gab der Berufung des Klägers vollumfänglich statt. Nach dem LAG Köln hat der Kläger einen Anspruch auf Schadensersatz in der begehrten Höhe wegen nicht rechtzeitig erfolgter Zielvorgabe für das Geschäftsjahr 2019. Der Kläger könne Schadensersatz statt der Leistung verlangen, weil eine einseitige Zielvorgabe durch Zeitablauf unmöglich geworden sei. Das LAG Köln verwies zunächst auf die gefestigte Rechtsprechung des BAG, wonach eine Zielvereinbarung spätestens nach Ablauf des Zeitraums, für den zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Ziele zu vereinbaren sind, nicht mehr möglich ist. Eine Zielvereinbarung könne entsprechend dem Leistungssteigerungs- und Motivationsgedanken ihre Anreizfunktion nur dann erfüllen, wenn der Arbeitnehmer bereits bei der Ausübung seiner Tätigkeit die von ihm zu verfolgenden Ziele kenne. Diese Prinzipien lassen sich nach Auffassung des LAG Köln auch auf die einseitige Zielvorgaben übertragen.
V. Weiterentwicklung der Rechtsprechung durch das LAG Köln
Das LAG setzt auf der bisherigen Rechtsprechung des BAG auf und entwickelt sie gleichzeitig fort, indem es feststellt:
- Eine in der Zielperiode pflichtwidrig und schuldhaft unterbliebene Zielvorgabe ist in gleicher Weise zulasten des Arbeitgebers Schadensersatz auslösend wie die pflichtwidrig und schuldhaft nicht abgeschlossene Zielvereinbarung. Anders als bei einer Zielvereinbarung kommt allerdings kein Mitverschulden des Arbeitnehmers in Betracht, da die Ziele einseitig durch den Arbeitgeber vorgegeben werden.
- Eine Anwendung von § 315 Abs. 3 BGB, nach dem die Bestimmung der angemessenen Höhe eines Anspruchs durch gerichtliches Urteil festgelegt werden kann, ist aus denselben Gründen wie bei einer fehlenden Zielvereinbarung ausgeschlossen. Auch im Hinblick auf die einseitige Zielvorgabe ist deren Zweck, nämlich die Motivation der Mitarbeiter durch das Setzen eines Leistungsanreizes, nicht mehr erreichbar, wenn die Zielperiode abgelaufen ist.
- Die nachträgliche Ermittlung angemessener, fallbezogener Ziele durch die Gerichte ist angesichts der Vielzahl der unterschiedlichen Gewichtung möglicher Ziele und aufgrund sich ständig ändernder Rahmenbedingungen in der Regel mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden oder sogar gar nicht möglich.
- Wird ein Ziel erst zu einem derart späten Zeitpunkt innerhalb des Geschäftsjahres vorgegeben, dass die Vorgabe ihre Anreizfunktion nicht mehr sinnvoll erfüllen kann, ist sie so zu behandeln, als sei sie überhaupt nicht erfolgt. Das gilt auch dann, wenn die Vorgabe noch innerhalb der Zielperiode erfolgt und wenn lediglich Unternehmensziele und keine persönlichen Ziele vorgegeben werden. Denn auch bei Unternehmenszielen besteht eine Motivations- und Anreizfunktion, die nach Ablauf einer nicht unerheblichen Zeit, nicht mehr ihre Wirkung entfalten kann.
- In der Konsequenz haben Arbeitnehmer grundsätzlich Anspruch auf Schadensersatz in Höhe der Differenz zwischen dem tatsächlich gezahlten Bonus und der variablen Vergütung, die bei einer hundertprozentigen Zielerreichung zu zahlen gewesen wäre. Ein geringerer Betrag kommt lediglich in Betracht, wenn besondere Umstände vorliegen, die eine Kürzung des Schadenersatzanspruchs rechtfertigen (bspw. das Vorliegen einer erheblichen Fehlzeit durch Krankheit).
VI. Bedeutung des Urteils für die Praxis
Das Urteil des LAG trägt maßgeblich zur Klarstellung und Weiterentwicklung der Rechtsprechung im Bereich der Zielvorgabe bei. Das Gericht unterstreicht die Bedeutung einer klaren und rechtzeitigen Zielvorgabe im Arbeitsverhältnis. Es verdeutlicht, dass eine verspätete oder unterbliebene Festlegung von Zielen nicht nur die Motivation der Mitarbeiter beeinträchtigen, sondern auch rechtliche Konsequenzen für den Arbeitgeber nach sich ziehen kann.
Das Urteil hebt hervor, dass eine pünktliche und präzise Festlegung von Zielen im Arbeitsverhältnis entscheidend ist und dass eine unterbliebene Zielvorgabe nicht unerhebliche Schadensersatzansprüche des Arbeitnehmers auslösen kann. Dazu ist anzumerken, dass die Zielvorgabe im zugrundeliegenden Fall im letzten Drittel des maßgeblichen Geschäftsjahres erfolgte. Das LAG Köln hat angedeutet, dass eine geringe Verspätung bei der Zielvorgabe die beschriebenen Schadensersatzansprüche nicht (zwingend) auslöst. Da eine feste Grenze jedoch nicht besteht, ist dringend empfehlenswert, in Arbeitsverträgen und Betriebsvereinbarungen vorgeschriebene Fristen für die Zielvorgabe einzuhalten.
Für die Praxis bedeutet dieses Urteil, dass Unternehmen und Führungskräfte ihre Prozesse zur Zielsetzung und -kommunikation noch genauer überprüfen und gegebenenfalls anpassen sollten, um rechtliche Risiken zu minimieren. Das gilt insbesondere in Zeiten, in denen sich die Vergütung von leitenden Mitarbeitern zu großen Teilen aus variablen Vergütungsbestandteilen zusammensetzt. Unternehmen sollten daher sicherstellen, dass ihre Prozesse zur Zielsetzung klar strukturiert sind und den rechtlichen Anforderungen entsprechen, um ein produktives und konfliktfreies Arbeitsumfeld zu gewährleisten und Streitigkeiten und Schadensersatzansprüche zu vermeiden.
Die Revision gegen das Urteil ist inzwischen anhängig. In Anbetracht der Bedeutung dieses Themenfeldes bleibt zu hoffen, dass das Bundesarbeitsgericht weitere Klarheit und Rechtssicherheit schaffen wird.