Der Gerichtshof hat entschieden, dass es mit der
Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Artikel 45 AEUV vereinbar ist, dass
ein Mitgliedsstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der
Arbeitnehmer in das Aufsichtsratsgremium eines Unternehmens nur solchen
Arbeitnehmern einräumt, die in Betrieben des Unternehmens oder in
Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind (Rs. C-566/15 – Erzberger).
Anlass für die Entscheidung bot ein
Vorabentscheidungsersuchen gem. § 267 AEUV des Berliner Kammergerichts.
Dieses war als Beschwerdeinstanz mit einem Statusverfahren nach
§ 98 AktG befasst. Der Beschwerdeführer Konrad Erzberger, Aktionär
des Reisekonzerns TUI, war der Auffassung, dass der Aufsichtsrat der
Gesellschaft nicht richtig zusammengesetzt sei, weil die hierfür geltenden
Regelungen europarechtswidrig seien. Das Kammergericht zeigte sich offen für
diese Argumentation und legte die Frage dem EuGH vor (Beschluss vom 16.10.2015
– 14 W 89/15).
In der mündlichen Verhandlung vor dem EuGH am 24. Januar
dieses Jahres hatte die EU-Kommission, die im Vorfeld noch eine andere
Auffassung vertreten hatte, geäußert, dass die bestehenden deutschen
Vorschriften als europarechtskonform angesehen werden könnten. Das System der
Arbeitnehmermitbestimmung und dessen soziale Ziele seien derart wichtig, dass
ihr Erhalt jede daraus möglicherweise resultierende Beschränkung der
Arbeitnehmerfreizügigkeit rechtfertige. In diese Richtung äußerten sich auch
die Bundesregierung, Gewerkschaften und Arbeitgebervertreter in einer ungewöhnlichen,
weil gemeinsamen Erklärung.
Die Entscheidung des EuGH: Keine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit
In seinem Urteil differenzierte der EuGH zwischen der
Situation von derjenigen Arbeitnehmer des TUI-Konzerns, die bei einer
Tochtergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland
beschäftigt sind und den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern der Gruppe,
die ihre Stelle aufgeben, um eine Stelle bei einer in einem anderen
Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dieses Konzerns anzutreten.
Zunächst stellte der Gerichtshof fest, dass die Situation
der im Ausland beschäftigten Arbeitnehmer nicht anhand des allgemeinen Verbots
der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu prüfen sei, sondern
anhand der für den Bereich der Arbeitsbedingungen spezielleren in
Artikel 45 AEUV gewährleisteten Arbeitnehmerfreizügigkeit. Deren
Anwendungsbereich sei allerdings nicht eröffnet. Denn die Bestimmungen über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer seien nicht auf Arbeitnehmer anwendbar, die nie
von ihrer Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht haben oder
Gebrauch machen wollen. Dass die Tochtergesellschaft, bei der die betreffenden
Arbeitnehmer tätig sind, von einer Muttergesellschaft mit Sitz in einem anderen
Mitgliedstaat kontrolliert wird, sei insoweit ohne Bedeutung.
Unter die Arbeitnehmerfreizügigkeit falle allerdings
grundsätzlich die Situation der Arbeitnehmer, die innerhalb des Konzerns von
einem Arbeitsplatz in Deutschland auf einen Arbeitsplatz in einem anderen
Mitgliedsstaat wechseln.
Der Verlust des aktiven und des passiven Wahlrechts für die
Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der deutschen
Muttergesellschaft sowie gegebenenfalls der Verlust des Rechts auf Ausübung
oder weitere Ausübung eines Aufsichtsratsmandats stellten jedoch nach
Auffassung des EuGH keine Behinderung der Freizügigkeit dar.
Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer garantiere einem
Arbeitnehmer nicht, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat als seinem
Herkunftsmitgliedstaat in sozialer Hinsicht neutral sein werde. Ein solcher
Umzug könne aufgrund der Unterschiede, die zwischen den Systemen und den
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestehen, für den betreffenden
Arbeitnehmer je nach Einzelfall Vorteile oder Nachteile in diesem Bereich
haben. Daher verschaffe die Arbeitnehmerfreizügigkeit dem Arbeitnehmer nicht
das Recht, sich im Aufnahme-Mitgliedstaat auf die Arbeitsbedingungen zu
berufen, die ihm im Herkunfts-Mitgliedstaat nach dessen nationalen
Rechtsvorschriften zustanden.
Das Unionsrecht hindere einen Mitgliedstaat nicht daran,
Regelungen im Bereich der kollektiven Vertretung von Arbeitnehmerinteressen in
den Leitungs- und Aufsichtsorganen einer Gesellschaft nationalen Rechts zu
erlassen, die nur auf die Arbeitnehmer inländischer Betriebe Anwendung finden.
Dies gilt jedenfalls dann, wenn diese Gesellschaft bislang nicht Gegenstand
einer Harmonisierung oder auch nur einer Koordinierung auf Unionsebene war und sofern
eine solche Beschränkung auf einem objektiven und nicht diskriminierenden
Kriterium beruht. Von dieser Möglichkeit habe Deutschland mit seiner
Mitbestimmungsregelung Gebrauch gemacht.
Wenn also ein zuvor in Deutschland beschäftigter
Arbeitnehmer infolge seiner Versetzung in einen anderen Mitgliedsstaat seine
Mitgliedschaft im Aufsichtsrat verliere, sei dies nur Konsequenz der
Entscheidung Deutschlands, die Anwendung seiner nationalen Vorschriften im
Bereich der Mitbestimmung auf die bei einem inländischen Betrieb tätigen
Arbeitnehmer zu beschränken.
Generalanwalt: Beschränkung wäre jedenfalls gerechtfertigt
Mit seiner Entscheidung ist der Gerichtshof der
Argumentation des Generalanwalts gefolgt, der bereits in seinen Schlussanträgen
ebenfalls Stellung zugunsten der Europarechtskonformität genommen hatte. Dieser
hatte auch zur vom Gerichtshof nicht mehr zu entscheidenden Frage Stellung
genommen, ob eine etwaig die Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkende Wirkung
der Mitbestimmungsregelungen durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses
gerechtfertigt gewesen wäre. Der Generalanwalt hatte dies bejaht.
Dabei hatte er sich nicht dem im Verlauf des Verfahrens u.a.
von TUI sowie der Bundesregierung vorgebrachten Argument angeschlossen, das
Territorialitätsprinzip, wonach die Zuständigkeit des deutschen Gesetzgebers
auf das deutsche Hoheitsgebiet beschränkt sei, rechtfertige die deutsche
Mitbestimmungsregelung.
Allerdings sei eine etwaige Beschränkung durch die deutsche
Regelung beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts als Ausdruck bestimmter
legitimer wirtschafts- und sozialpolitischer Entscheidungen als gerechtfertigt
anzusehen. Die Unternehmensmitbestimmung sei ein wesentlicher Teil des
deutschen Arbeitsmarkts und – allgemeiner – der deutschen Sozialordnung. Dazu
gehöre auch, dass die Arbeitnehmer der einzelnen Gesellschaften eines Konzerns
die Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat selbst organisierten.
Diesen Grundsätzen liefe es zuwider, wenn die außerhalb Deutschlands
beschäftigten Arbeitnehmer an den Wahlen teilnehmen müssten. Denn dies setze
voraus, dass die Verantwortung für die Organisation und Durchführung der Wahlen
von den Arbeitnehmern der einzelnen Konzerngesellschaften auf die Leitung der
deutschen Muttergesellschaft übertragen werden müsste.
EuGH weiter mit deutscher Mitbestimmung befasst
Auch in Zukunft wird das deutsche Mitbestimmungsregime den EuGH weiter beschäftigen: Auf Ersuchen des LG Frankfurt (Beschluss vom 17.06.2016 – 21 W 91/15) wird er die Frage zu klären haben, ob die Regelungen des Drittelbeteiligungsgesetzes bzw. des Mitbestimmungsgesetzes mit europäischem Recht vereinbar sind, wonach für die Schwellenwerte von 500 bzw. 2.000 regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmern Mitarbeiter in Konzernunternehmen im EU-Ausland nicht heranzuziehen sind. Nach der Entscheidung sieht es danach aus, als würde der Gerichtshof auch diese Frage positiv beantworten.