Der
EuGH in Luxemburg hat sich in zwei Entscheidungen (Az.: C 619/18 und C 684/16)
der Frage gewidmet, ob der nicht genommene Jahresurlaub eines Arbeitnehmers
nach nationalen Regelungen automatisch erlöschen kann, wenn der Arbeitnehmer
während des Arbeitsverhältnisses keinen Urlaubsantrag stellt, oder ob das
Unionsrecht und insbesondere die Richtlinie 2003/88 des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung
einer solchen Auffassung entgegensteht.
Die Ausgangslage
Den
Entscheidungen des EuGH lagen dabei folgende sich in Deutschland abspielende
Sachverhalte zugrunde:
Im
ersten Fall nahm ein Rechtsreferendar des Landes Berlin in der Zeit vom Beginn
bis zur Beendigung seines juristischen Vorbereitungsdienstes keinen bezahlten
Urlaub und stellte anschließend nach Beendigung des Rechtsreferendariats einen
Antrag auf finanzielle Abgeltung für den nicht genommenen Jahresurlaub, der
durch Bescheid der Präsidentin des Kammergerichts Berlin abgelehnt wurde. Der
Rechtsreferendar wendete sich zur Überprüfung der Ablehnung an die deutschen
Verwaltungsgerichte.
Im
anderen Fall bat die Arbeitgeberin, die Max-Planck-Gesellschaft, einen ihrer
Mitarbeiter darum, seinen Urlaub vor dem planmäßigen Ende des
Arbeitsverhältnisses zu nehmen. Der Arbeitnehmer tat dies jedoch nur bedingt
und nahm nur zwei Urlaubstage in Anspruch; für den restlichen Jahresurlaub
beantragte er die Zahlung eines finanziellen Ausgleichs. Die Gesellschaft
lehnte dies ebenfalls ab, weshalb sich der Arbeitnehmer an die deutschen
Arbeitsgerichte wandte.
In
beiden Fällen beriefen sich die Arbeitgeber auf einen Verfall des
Urlaubsanspruchs nach den einschlägigen gesetzlichen Regelungen.
EuGH: Urlaubsanspruch verfällt nicht allein durch Nichtbeantragung
Die
nationalen Gerichte legten dem EuGH daraufhin die Frage vor, ob das Unionsrecht
nationalen Regelungen wie die im Ausgangsverfahren einschlägigen § 9 der
Erholungsurlaubsverordnung der Beamten und Richter des Landes Berlin und § 7
des Bundesurlaubsgesetzes, entgegensteht, die den Verlust des nicht genommenen
Jahresurlaubs bei Ende des Bezugszeitraumes bzw. den Verlust der korrelierenden
finanziellen Vergütung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorsehen, wenn
der Arbeitnehmer den Urlaub nicht vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses
beantragt.
Um
die Pointe gleich vorweg zu nehmen, lautet der Leitgedanke des EuGH wie folgt:
Ein Arbeitnehmer verliert seine Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht
allein dadurch, dass er den Urlaub nicht beantragt hat. Damit der Urlaub
verfällt, muss der Arbeitgeber vielmehr nachweisen, dass der Mitarbeiter aus
freien Stücken verzichtet habe, seinen Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in
die Lage versetzt worden war, seinen Urlaub tatsächlich rechtzeitig nehmen zu
können.
Die Begründung des EuGH
Es
bleibt jedoch spannend, wie der EuGH diesen entscheidungserheblichen Grundsatz
begründet. Die Richter aus Luxemburg machen in den Entscheidungen – wie bereits
in vorherigen Entscheidungen des EuGH zur der Thematik des Urlaubsanspruchs – zunächst
deutlich, dass das Recht jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein
besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Europäischen Union, der
seinen Ausdruck insbesondere in Art. 31 der Charta der Grundrechte der
Europäischen Union findet, anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf.
Nach Ansicht des EuGH liegt der Zweck des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88
darin, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Wahrnehmung
der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum
anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen.
Vor
diesem Hintergrund sieht Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 vor, dass der
bezahlte Mindestjahresurlaub außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses
nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden darf. Der
Unionsgesetzgeber geht somit davon aus, dass die tatsächliche Inanspruchnahme
des Jahresurlaubs Vorrang vor einem finanziellen Ausgleich für nicht genommenen
Urlaub genießt, sodass im Grundsatz gewährleistet wird, dass der Arbeitnehmer
zum Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit über eine tatsächliche
Ruhezeit verfügt.
Der
EuGH spricht dem nationalen Gesetzgeber allerdings auch einen Gestaltungsspielraum
dahingehend zu, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 einer nationalen
Regelung, die für die Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub
Modalitäten vorsieht, die sogar den Verlust dieses Anspruchs am Ende eines
Bezugszeitraumes oder eines Übertragungszeitraumes regelt, nicht entgegensteht.
Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Arbeitnehmer, dessen
Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erloschen ist, tatsächlich die Möglichkeit
hatte, den Anspruch wahrzunehmen.
Die
Grenze des zulässigen Gestaltungsspielraums wird demgegenüber dann
überschritten, wenn eine nationale Regelung besteht, die einen automatischen
Verlust des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub ohne vorherige Prüfung, ob die
Möglichkeit des Arbeitnehmers bestand, den Anspruch tatsächlich wahrzunehmen,
vorsieht.
Zur
Begründung führt der EuGH an, dass der Arbeitnehmer davon abgeschreckt werden
kann, seine ihm zustehenden Rechte gegenüber dem Arbeitgeber ausdrücklich
geltend zu machen, da er als die schwächere Partei des Arbeitsvertrages
anzusehen ist. Denn insbesondere bei der Einforderung von Rechten besteht die
Gefahr, dass der Arbeitnehmer sich Maßnahmen des Arbeitgebers ausgesetzt sehen
könnte, die sich zu seinem Nachteil auf das Arbeitsverhältnis auswirken. Ob
diese generalisierende Annahmen des EuGH bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage
gerade beim Thema Urlaub zutreffend ist, soll an dieser Stelle nicht vertieft
werden.
Es
gilt ferner zu vermeiden, so der EuGH, dass der Arbeitnehmer in die Situation
gedrängt wird, dass es allein seine Aufgabe ist, für die tatsächliche
Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu sorgen, während dem
Arbeitgeber in Aussicht gestellt wird, sich unter Berufung auf den fehlenden
Urlaubsantrag des Arbeitnehmers seiner eigenen Pflichten zu entziehen.
Freilich
kann die Verpflichtung des Arbeitgebers laut EuGH nicht so weit gehen, dass er
seine Arbeitnehmer zwingen muss, ihren Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub
tatsächlich wahrzunehmen. Von dem Arbeitgeber kann lediglich verlangt werden,
den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, einen solchen Anspruch tatsächlich
wahrzunehmen, indem er ihn unter Umständen höflich dazu auffordert und ihm deutlich
und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub, wenn er ihn nicht nimmt, am Ende des
Bezugszeitraumes oder am Ende des Arbeitsverhältnisses erlöschen wird.
Die
Beweislast obliegt insoweit dem Arbeitgeber: Es ist nämlich Sache des
Arbeitgebers nachzuweisen, dass er „mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat,
um den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage zu versetzen“, den bezahlten
Jahresurlaub zu nehmen. Sollte der Arbeitgeber diesen Nachweis nicht erbringen
können, verstößt des Erlöschen des Urlaubsanspruchs nach der Auffassung des
EuGH gegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88. Zeigt sich demgegenüber, dass
der Arbeitnehmer beim Verzicht, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, „aus
freien Stücken und in Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen“
gehandelt hat, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen
Urlaubanspruch tatsächlich wahrzunehmen, liegt bei Verlust des Anspruchs auf
bezahlten Jahresurlaub kein Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 oder im Falle der
Beendigung des Arbeitsverhältnisses und eines damit korrelierenden Verlust des
Anspruchs auf Zahlung einer Vergütung kein Verstoß gegen Art. 7 Abs. 2 der
Richtlinie 2003/88 vor.
Es bleibt somit abzuwarten, wie die vorlegenden Gerichte die nationalen Regelungen – wie § 9 der Erholungsurlaubsverordnung der Beamten und Richter des Landes Berlin und § 7 des Bundesurlaubsgesetzes – vor dem Hintergrund der jüngsten Rechtsprechung des EuGH europarechtskonform auslegen und ob diese zu dem Ergebnis kommen werden, dass die nationalen Regelungen nicht im Einklang mit dem Unionsrecht stehen. Der EuGH hat in jedem Fall bereits jetzt Arbeitnehmer und Arbeitgeber aufhorchen lassen.