Der vorliegende Fall betraf eine bulgarische Staatsangehörige, die seit 2015 als Arbeitnehmerin eines bulgarischen Unternehmens beschäftigt war. Grundlage des Arbeitsverhältnisses bildete ein bulgarischer Arbeitsvertrag, in dem eine wöchentliche Arbeitszeit von 30 Stunden festgelegt war. Die Arbeitnehmerin wurde nach Deutschland entsandt und arbeitete für 950,00 € netto monatlich im Haushalt einer über 90 Jahre alten Frau in Berlin. Die Arbeitnehmerin war auch im Haus der Frau untergebracht. Ihre Aufgaben umfassten der Frau Gesellschaft zu leisten, Lebensmittel einzukaufen, zu kochen, zu putzen sowie sie beim Ankleiden und – wenn erforderlich auch nachts – bei der Hygiene zu unterstützen.
Mindestlohngesetz (MiLoG)
2018 forderte die Arbeitnehmerin von ihrem bulgarischen Arbeitgeber eine höhere Bezahlung entsprechend dem deutschen Mindestlohngesetz (MiLoG). In Deutschland gilt ein gesetzlicher Mindestlohn von aktuell 9,60 € brutto pro Arbeitsstunde für nahezu alle Arbeitnehmer in allen Branchen. In manchen Branchen, wie z.B. der Braubranche, gibt es Abweichungen aufgrund von Tarifverträgen. Der aktuelle Mindestlohn wird in Zukunft weiter – bis Juli 2022 auf 10,45 € brutto pro Arbeitsstunde – angehoben. Verstöße gegen das Mindestlohngesetz können mit Geldstrafen von bis zu 500.000 € geahndet werden.
Tatsächliche Arbeitszeit
Im vorliegenden Fall machte die Arbeitnehmerin geltend, nicht bloß die vereinbarten 30 Stunden pro Woche, sondern rund um die Uhr gearbeitet zu haben. Davon habe sie teilweise Bereitschaftsdienst geleistet, um erforderlichenfalls auch nachts Hilfe leisten zu können. Auf der Grundlage des gesetzlichen Mindestlohns und einer täglichen Arbeitszeit von 24 Stunden für eine Zeit von sieben Monaten im Jahr 2015, machte die Arbeitnehmerin Lohnansprüche von insgesamt fast 43.000 € abzüglich der bereits gezahlten 7.000 € geltend.
Das Bundesarbeitsgericht entschied im Juni 2021, dass der gesetzliche Mindestlohn auch für ausländische Arbeitgeber, die Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden, gilt. Es spielt dabei keine Rolle, ob deutsches oder ausländisches Recht auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet. Dem liegt zugrunde, dass die gesetzliche Regelung, wonach in Deutschland arbeitende Arbeitnehmer Anspruch auf einen bestimmten gesetzlichen Mindestlohn haben, als sogenannte „Eingriffsnorm“ im Sinne der europäischen Rom I Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates) gilt. Eingriffsnormen sind zwingende Vorschriften, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des auf den Vertrag ansonsten anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden sind, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Auch wenn die Parteien den Arbeitsvertrag ausdrücklich dem bulgarischen Recht unterworfen haben, hat dies nicht wirksam den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nach deutschem Recht ausgeschlossen.
Das BAG hatte dann die schwierige Aufgabe festzustellen, für wieviele Stunden am Tag die Arbeitnehmerin einen Anspruch auf den Mindestlohn hat. Das Gericht entschied, dass die tatsächlichen Arbeitsstunden und die Zeit des Bereitschaftsdienstes als Arbeitszeit im Sinne des Mindestlohngesetzes gelten. Nachdem die vorherige Instanz entschieden hatte, dass der Mindestlohn für 21 Stunden am Tag zu zahlen sei, genügten die getroffenen Feststellungen dem BAG nicht, sodass der Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht für weitere notwendige Feststellungen zur tatsächlichen Arbeitszeit und verbleibenden Freizeit zurückverwiesen wurde. Während eine abschließende Entscheidung über die an die klagende Arbeitnehmerin zu zahlende Summe noch aussteht, liegt es nahe, dass die im Endeffekt zu bezahlenden Stunden, die tatsächliche Arbeitszeit eher unterhalb der vom LAG angenommenen 21 Stunden pro Tag, aber deutlich oberhalb der ursprünglich mit dem bulgarischen Arbeitgeber vereinbarten 30 Stunden pro Woche liegen wird.
Praxishinweis
Insbesondere im Niedriglohnsektor (z.B. Reinigungs- und Pflegesektor) ist das Mindestlohngesetz für Arbeitgeber von großer Bedeutung. Wie das BAG nun klargestellt hat, gilt dies auch für ausländische Arbeitgeber, die Arbeitnehmer zum Arbeiten nach Deutschland entsenden, unabhängig davon, welche Rechtsordnung die Parteien gerne auf das Arbeitsverhältnis anwenden würden. Vor allem im Bereich der Pflegeleistungen sind Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst üblich. Die Vergütung dieser Zeiten gilt es nun im Lichte dieser Rechtsprechung zu überprüfen. Als Folge wird ein deutlicher Anstieg der Pflegekosten erwartet. In jedem Fall gilt es für Arbeitgeber stets auf die Einhaltung des anwendbaren Mindestlohnes zu achten. Ansonsten werden beachtliche Geldbußen und Lohnnachforderungen durch Arbeitnehmer riskiert. Die in Arbeitsverträgen üblicherweise vereinbarten kurzen Verjährungsfristen finden auf den Mindestlohn keine Anwendung, sodass daraus erwachsende Ansprüche auch noch Jahre später geltend gemacht werden können.